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Reiler Platt
essayistisch
"Manchen Leuten erscheint die ... Sprache grob, und sie mögen sie
nicht. Ich habe diese Sprache immer geliebt. Das ... kann alles sein: zart und
grob, humorvoll und herzlich, klar und nüchtern und vor allem, wenn man
will, herrlich besoffen. Die Prinzessin bog sich diese Sprache ins Hochdeutsche
um, wie es ihr paßte - denn vom ... gibt es hundert und aberhundert
Abarten. Philologisch ist dem sehr schwer beizukommen; aber mit dem Herzen ist
ihm beizukommen. Das also sprach die Prinzessin -ah, nicht alle Tage! Das
wäre ja unerträglich gewesen. Manchmal, zur Erholung, wenn ihr grade
so zu Mut war, sprach sie ...; sie sagte darin die Dinge, die ihr besonders am
Herzen lagen." Das schrieb Kurt Tucholsky zwar nicht über das
Reiler Platt[1], aber sich dieses schwärmerische Empfinden für
den heimischen Dialekt läßt sich auch auf alle anderen Mundarten übertragen.Auch
der breitestes Hessisch babbelnde Goethe urteilte im Rückblick auf seine Leipziger Studienjahre, als ihm seine volkstümliche Sprache vorgehalten wurde: "Jede Provinz
liebt ihren Dialekt, denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die
Seele ihren Atem schöpft."[2] Das Reiler Platt ist ebenfalls nur eines unter hunderten von anderen moselfränkischen Ortsdialekten, aber
für den, der es spricht, natürlich etwas ganz Besonderes. Es
stolziert nicht mit dem hocherhobenen Akzentuierungsnäschen eines
Hannoveraner Kaufmanns durch die Straßen und stapft nicht breit und behäbig
wie ein niederbayrischer Bauer neben der Kuh über die Wiesen, sondern
läuft flink die Weinberge rauf und runter und springt behende über
Stufen und Mäuerchen. Auch haben im Gegensatz zum Hochdeutschen - das letztlich
nichts anderes ist als hochprozentiges Dialektdestillat -, nicht Generationen
von gelehrten Mystikern, Theologen, Philosophen, Juristen, Dichtern und
Grammatikern an ihm herumgefeilt. Aber man kann eben nicht jeden Tag Schnaps
trinken und Sahnekuchen essen: Brot und Butter, Wasser und Wein sind auf die
Dauer bekömmlicher. Schließlich stellen die Reiler den edlen
Rebensaft her und trinken ihn gerne, darum kann man mit Reiler Platt feste
zupacken und ausgelassen feiern. Wie jede Sprache ist auch das Reiler Platt
Ausdruck des Denkens und die geronnene Erfahrung seiner Sprecher. Bestimmte
Ausdrücke, für die es im Hochdeutschen keine Entsprechung gibt, sind
charakteristisch für die Sprache und Mentalität des
Reilers. Zunächst sticht dem Sprachinteressierten die
ungewöhnliche Selbstbezeichnung der Reiler ins Auge. So wie es Enkircher
Bunnepeller, Kröver Esele usw. gibt, sind die Reiler landläufig als
"Bibade" /ˈbiːbatə/[3] bekannt. Dem
Lateiner fällt die Nähe zum Imperativ Plural von
bibere (trinken) auf. Die Entstehung dieses gebildeten Spitznamens
könnte somit schnell erklärt sein: In der guten alten, vorkonziliaren Zeit, als im
katholischen Gottesdienst noch das lateinische Meßbuch verwendet wurde
und die einfachen Gläubigen noch dem unverständlichen Hochgebet
lauschten, muß einigen aufmerksamen Zuhörern aufgefallen sein,
daß nach dem "Hokuspokus" der Brotwandlung der zelebrierende Priester
zunächst feierlich "Bibite ex eo omnes" zu sprechen hatte, bevor er sich
alleine den Kelch Weines genehmigen durfte. Daß die Burschen nach der
Messe selbst fleißig "Bibite" machten und auf ex so manchen Becher
leerten, versteht sich bei dem guten Reiler Wein von selbst. Daß daraus
sogar die Bezeichnung aller Dorfbewohner wurde, gibt ein beredtes Beispiel von
der weit bekannten Trinkfreude und -festigkeit der Reiler, und "Reiler Bibade"
hört sich nunmal wirklich besser an als "Reiler Säufer". Eine weitere Erklärung des Namens, wie sie weiter unten gegeben wird, knüpft dagegen an die romanische Frühzeit des Dorfes an.
Neben dem lateinischen Spitznamen haben auch viele französische Begriffe Eingang in das Dialekt gefunden, aber das
wichtigste Wort in Reil ist zweifelsohne "verpaaßt", mit einem ganz
langen, schmollenden A. Ungefähr jeder zweite Reiler kann wohl von sich
behaupten, dies in irgendeiner Beziehung gerade zu sein. Die meisten Deutschen
haben ein Hobby und sind aus diesem Grund in einem entsprechenden Verein. Viele
Reiler haben jedoch das Hobby, "verpaaßt" zu sein und treten deswegen
ständig in Vereine ein und wieder aus, oder - wenn sie in ihrem Hobby zur
Meisterschaft gebracht haben, strafen sie das Dorf dadurch, daß sie
zeitlebens auf ihre Gemeinschaftsaktivitäten verzichten. "Verpaaßt"
zu sein ist nun mal auch wirklich nicht schwer, man muß nur
möglichst alle Konflikte persönlich nehmen und peinlichst darauf
bedacht sein, sie nicht durch klärende Gespräche zu lösen,
sondern die beleidigte Leberwurst zu spielen und sich in seine Schmollecke
zurückzuziehen. Wenn man dann auch noch zu der Überzeugung gelangt
ist, daß die anderen sowieso all blöd sind, steht einer richtig
ausgewachsenen Verpaaßtheit nichts mehr im Wege. Gäbe es eine Bibel
auf Reiler Platt, müßte es in der Exodus-Erzählung lauten: "Unn
dä Moses hot denne Ägibda lauta Plore gescheckt, awwa dat hot alles
neist genotzt, denn dä Parao woa om End total verpaaßt", und ging
zurecht mit Mann und Roß und Wagen im roten Meer unter. Vielleicht
liegt es auch am reduzierten Beziehungsvokabular des Reiler Platts, daß
über persönliche Dinge kaum gesprochen werden kann. Mit Reiler Platt
alleine ist man auf keinen Fall therapiefähig. Bezeichnenderweise
existiert das Wort lieben nicht als Verb, sondern lediglich als Adjektiv
(im Englischen und Spanischen z.B. ist es genau umgekehrt)[4]. Der maximale verbale Ausdruck von Zuneigung besteht in
einem bestimmten "Eisch hon Disch ger" (Ich habe Dich gerne/ich mag Dich). Ein
verklärtes Geständnis wie "Ich liebe Dich" wird für einen Reiler
immer eine nichtssagende Floskel bleiben. Er wird diesen Satz gewiß an
bestimmten Stellen seines Lebens, an denen er es für angebracht hält,
artig aufsagen, aber dabei wird ihn ein mulmiges Gefühl beschleichen und
ihm ein leichtes Magendrücken verursachen. Romantische Liebeschwüre
auf Reiler Platt sind gänzlich undenkbar, da es dafür keine
Wörter gibt (es folgt eine längere Passage über das Liebesleben
der Winzer, die an dieser Stelle nichts zur Sache tut - gestrichen). Statt
überflüssige Gefühlsduseleien zu ermöglichen, besitzt das
Reiler Platt einen reichen Fundus an handfesten Lebensregeln und plastischen
Redensarten: "Hätt' ich, wollt' ich unn wär' ich, woren freä
schu drei arma Leit" - "Baal fängt ma kei Hoas" - "Gleich mettach, gleich
noocht" usw. Heinrich Heine urteilte dagegen einst über die Deutschen:
"'Was lange wird, wird gut' - 'Eile mit Weile' - 'Rom ist nicht an einem
Tag gebaut' - 'Kommst du heut nicht, kommst du morgen' und noch viele hundert
ähnliche Sprichwörter führt der Deutsche beständig im
Munde, dienen ihm als Krücken bei jeder Handlung und sollten mit Recht der
ganzen deutschen Geschichte als Motto vorangesetzt werden."[5] Bei dem fleißigen Winzerstand
hätte er sich ein anderes Urteil bilden müssen, denn im Jahreslauf
bleibt dem Winzer nur wenig Zeit zur Muße. Während Kartoffeln und
Getreide ohne großes Zutun des Bauern reifen, verlangt der Weinstock
beständige Pflege, von der Behandlung des Weines im Keller einmal
ganz abgesehen. Der unablässige abwechslungsreiche Arbeitsrhythmus
hält Geist und Körper auf Trab, und wer bei den früheren
großen Arbeitskolonnen im Weinberg zu Wort kommen wollte, mußte
ordentlich sein Mundwerk klappern lassen. Da der Weinbau jedoch immer mehr
zurück geht, wird es der Sprache auch schwer fallen, ihre
charakteristischen syntaktischen und lexikalischen Eigenarten zu bewahren. Wer
wird in ein paar Jahren noch die einfache Unterscheidung von Iwwaloft
und Innaloft kennen, die jahrhundertelang Wetterprognosen
ermöglichte, bevor sie durch die allabendliche Wetterkarte der Tagesschau
abgelöst wurde.[6] Das Entscheidende am
Dialekt ist auch nicht eine puristische Sprachverwendung, die jeden
Einfluß anderer Dialekte und Idiome verhindern möchte. Zumindest
sollte jedoch jedem Reiler bewußt sein, daß seine Sprache ein
ebenso einmaliges und erhaltenswertes Kulturdenkmal ist wie der Kölner Dom
und daß ihm keine Nachteile dadurch entstehen, wenn er diese Sprache
beherrscht.
"Wer sein Kind liebt, der züchtigt es" lautete einst ein weiser
Erziehungsratschlag, und viele schlugen ihre Kinder in der Überzeugung,
damit ein Beispiel von wahrer Elternliebe zu geben. >>Wer sein Kind
fördern will, spricht nur Hochdeutsch mit ihm<< pädagogisierte
es seit den sechziger Jahren auch im kleinsten Moseldörfchen - und
plötzlich redeten viele Eltern mit ihren Sprößlingen in einer
Sprache, die sie selbst nicht richtig beherrschten. Schwerer als die Tatsache,
seinen Kindern ein fehlerhaftes Hochdeutsch beizubringen (kein echter Reiler
kann holen/nehmen, stecken/stechen,
ch/sch auseinanderhalten), wiegt der Umstand, ihnen die eigene
Sprache aus zweifelhaften Gründen vorzuenthalten. Statt sich
glücklich zu schätzen, mit dem Deutschen zwar eine dialektal
differenzierte, aber letztlich doch allgemein verständliche Landessprache
zu besitzen, wird das eigene Dialekt plötzlich zum Grundursache
provinzieller Rückständigkeit und sozialer Benachteiligung
erklärt. Dabei braucht sich das Reiler Platt vor anderen Dialekten oder
gar dem Hochdeutschen in keinster Weise zu verstecken. Gerade mit letzterem
muß es keinen Vergleich scheuen, weil man beide Sprachformen nicht
vergleichen kann. Nun kann ich aus eigener Erfahrung nicht dokumentieren,
wie es sein muß, wenn Eltern untereinander in einer anderen Sprache
kommunizieren als mit einem selbst. Zumindest kann ich festhalten, ebenso wie
eigentlich alle anderen Gleichaltrigen in der Schule keine Probleme damit
gehabt zu haben, mich vom umgangssprachlichen Dialekt auf das
schriftsprachliche Hochdeutsch umzustellen. Natürlich betrifft dies nicht
die subtilen Unterscheidungen zwischen holen und nehmen, - an der
ganzen Mosel wurde noch keine einzige Musikkassette aufgenommen, sondern
bislang immer nur aufgeholt. Dies ist jedoch unabhängig davon, ob die
Eltern einem "Hochdeutsch" beibringen wollten oder nicht, was für die
Aussprache von ch/sch ebenfalls gilt. Manche Moselaner bekommen
irgendwann einmal gesagt, daß es zwischen beiden Lauten einen Unterschied
gibt. Wenn es ihnen nicht vollkommen egal ist, wie sie daherreden, verfallen
sie dem krampfhaften Bemühen, nun plötzlich alle sch-Laute durch ein
vornehm klingenderes ch zu ersetzen. Diese sog. Hyperkorrektur ist weit
verbreitet, da eine absolut richtige Umstellung sehr viel Anstrengung und
Konzentration erfordert, andererseits in Streßsituationen ein
Rückfall in die gewohnten Aussprachemuster ebenfalls normal ist.
Weiterhin wird in vielen Fällen auf die korrekte Aussprache der
Endsilbe -ig verzichtet, und statt des richtigen [iç] das nicht der
deutschen Hochlautung entsprechende [ik] benutzt, wie es in Süddeutschland
verbreitet ist. Eine allgemeine Unsicherheit über die "richtige"
Aussprache des Hochdeutschen besteht auf jeden Fall, dies jedoch unbeschadet
der Tatsache, ob der Sprecher komplett im Dialekt erzogen wurde oder
nicht. Von der Aussprache abgesehen, besteht jedoch auch im Denken eine
spürbare Distanz - eine Mischung aus Respekt und Verachtung -, zwischen
einem richtigen Reiler und dem Hochdeutschen. Bei offiziellen Anlässen,
wenn es im vollen Festzelt ein Loblied auf den guten Reiler Wein anzustimmen
gilt, übertreffen sich die Redner gegenseitig in der Auswahl übelster
Trinksprüche und Kalauer - die bedauernswerten Weinköniginnen tragen
einen Schaden fürs Leben davon. Man sagt nicht, was man denkt und
fühlt, sondern was man denkt, was gesagt werden müßte, bzw. was
die gebildeten und anspruchsvollen Auswärtigen wohl erwarten. Ein Winzer
besitzt zu Wein natürlich ein anderes Verhältnis als ein
Fabrikarbeiter oder versoffener Dichter. Warum fällt es ihm nicht ein,
sein Gewächs in seiner eigenen Sprache zu loben? Schließlich ist
Wein kein Naturprodukt wie eine Kartoffel, sondern Ergebnis eines mitunter
schwierigen Bearbeitungsprozesses. Diese Mühe sollte man nicht
nachträglich durch den Rückgriff auf lyrische Süßreserve
aus dem Reimlexikon lächerlich machen. Da lob ich mir doch die
Initiative des Theaterverein "Moselblümchen" (natürlich), der seit
einigen Jahren seine derben Schwänke vor der Aufführung ins Reiler
Platt überträgt. Dadurch werden die Stücke zwar auch nicht
anspruchsvoller, aber wenigstens kommt an manchen Stellen etwas von dem Humor
durch, der wirklich auf Reiler Boden gewachsen ist. Wie es mit dem Reiler
Platt weitergehen wird, ist schwer zu sagen. Es hängt sicherlich von der
Generation der "Hochdeutschen" ab, ob sie den Dialekt, bzw. das, was sie sich
darunter vorstellen, wieder vermehrt verwenden und auch bei ihren eigenen
Kindern dulden. Unerklärliche Vorbehalte gegen Reiler Platt sind immer
noch spürbar -, auf dem Land leben, schön und gut, aber so reden und
denken wie die Leute? Um Gottes Willen! Dabei stellt das Reiler Platt wie viele
andere moselfränkische Dialekte eine echte linguistische Rarität dar,
eine wirkliche Besonderheit im deutschen Sprachraum.
Das Reiler Platt gehört zum moselfränkischen Teil der
mittelfränkischen Dialekte, die wiederum neben dem Thüringischen und
Obersächsischen zu den mitteldeutschen Mundarten gehören. Die
weiteren mittelfränkischen Dialekte sind das Ripuarische (um Köln,
Bonn), das Pfälzische, das Hessische und das Rheinfränkische
(Rheinhessen). Die Ausdehnung des Moselfränkischen reicht in einem
schmalen Streifen rechts (Hunsrück) und einem weiten Gebiet links (Eifel)
der Mosel von Trier bis hinter Koblenz (Westerwald).[7] Das Moselfränkische befindet sich demnach
ungefähr in der Mitte des Rheinischen Fächers, da unsere Vorfahren -
wie so vieles andere auch - die zweite deutsche Lautverschiebung nicht
vollständig mitgemacht haben. Konkret bedeutet das, daß man in Reil
noch dat statt das, Perd statt Pferd (und schon gar
nicht Gaul oder Roß), Dach statt Tag, Schwester
statt Schweschter, aber schon machen statt maken,
gestern statt jestern, Dorf statt Dorp,
eisch statt ik etc. sagt.Auch das Reiler Platt gehört
wie fast moselfränkischen und ripuarischen Dialekte zu den
Tonakzentsprachen. Das heißt, daß durch die unterschiedliche
Akzentuierung ein und desselben Lautes Bedeutungsunterscheidungen hervorgerufen
werden können. Bekannte europäische Tonakzentsprachen sind
Norwegisch, Schwedisch, Litauisch und Serbokroatisch.[8] Die Unterscheidungsfunktion liegt linguistisch
bezeichnet auf suprasegmentaler Ebene, d.h. bei verschiedenen Phonemen kann
dieselbe Art der Akzentveränderung zu einer Bedeutungsdifferenzierung
führen. Das Phänomen wird häufig als "Rheinische Akzentuierung"
bezeichnet, volkstümlich auch "Rheinischer Singsang" genannt. Nachweisen
läßt es sich durch Darstellung von Tonhöhenkurven auf einem
Oszillographen. Zur Bedeutungsunterscheidung dient die Akzentuierung zum einen
lexikalisch, zum anderen grammatisch zur Kasus- und Numerusdifferenzierung.
Laut der Untersuchung von Elvira Reuter besitzt das moselfränkische
Dialekt von Horath 43 Phoneme.[9] Das ist sehr
viel für ein kleines Hunsrückdörfchen, wenn man bedenkt,
daß eine ausgemachte Weltsprache wie Spanisch nur 24 Phoneme besitzt
und selbst das als phonemreichste europäische Sprache angesehene
Portugiesisch nur 36 Phoneme enthält. Die Unterschiede im Phoneminventar
leiten sich natürlich in erster Linie von der ungleichen Anzahl der
Vokalphoneme ab, da der Konsonantenbestand in den indogermanischen Sprachen
numerisch nicht viel differiert. Es ist an dieser Stelle sicherlich vertretbar,
für das Reiler Platt einen vergleichbaren Phonembestand zu postulieren wie
für das Horather Dialekt. Art und Anzahl der Konsonantenphoneme
dürfte deckungsgleich sein (17), ebenso Anzahl der Monophthong- und
Diphthongphoneme (15) bzw. (6). Die Art der verwendeten Vokale und Diphthonge
unterscheidet sich jedoch in den moselfränkischen Orten voneinander. Schon
zwischen Nachbarorten wie Reil, Pünderich, Briedel und Enkirch gibt es
merkliche Differenzen. Charakteristisch für Reil ist eine Bevorzugung des
überoffenen [ɛː] (wie in Käse) in Wörtern wie Leiter /ˈlɛːtɐ/, Kleid
/klɛːt/ etc. Die Umlaute [øː] (schön) und [ʏ] (Bücher) werden dagegen
selten realisiert, langes ü [ʏː] könnte man sogar als gänzlich
untypisch bezeichnen. Stattdessen werden munter vermischt [ɛ]/[eː], [ɪ] und [ʊ]
verwendet.[10] Ein weiterer beliebter Laut ist
das im Hochdeutschen ebenfalls nicht vorhandene [ɛɪ̯], wie im englischen Lady, so zum Beispiel in Reil
/ʁɛɪ̯l/, bleib /blɛɪ̯v/; sogar in Leute /lɛɪ̯t/ (statt [ɔɪ̯]).
Des weiteren finden [oʊ̯], [aʊ̯] und [aɪ̯] Verwendung[11].Charakteristisch für moselfränkische
Dialekte ist die häufige Einfügung von Sproßvokalen.[12] Zwischen /n l r/ und /p k f v m j/ werden /e
i/ eingefügt, d.h. /i/ vor /j/, ansonsten /e/, z.B. /ˈfʁiːthɛləm/
Friedhelm, /ˈʃteːləp/ stülpe!, /ˈbuːʁiʃ/ Burg, /ˈʔɔʁijəl/ Orgel
etc. Beispiele der nur auf Tonakzentuierung basierenden
Bedeutungsunterscheidung wären die Wortpaare Weg/weich /wɛːʃ/,
sei!/Sie/Seie/Säue /zɛɪ̯/ , wobei Weg, sei! und Sie mit dem
"normalen" fallend konvexen, weich, Seie und Säue dagegen mit dem
charakteristisch flach konkaven Tonverlauf ausgesprochen werden. Was die
Konsonanten betrifft, unterscheidet sich das Reiler Platt ebenfalls
nicht stark von anderen bereits untersuchten Ortsdialekten. Hier kurz einige
Phänomene: Vor /l,r/ wird nicht unterschieden zwischen stimmhaften und
stimmlosen Konsonanten wie /p/ und /b/, /t/ und /d/, /k/ und /g/, zum Beispiel
/kʁɛɪ̯s/ Greis. Ein /n/ im Auslaut von Wörtern fällt fast
immer weg, z.B. /ˈlaːχə/ lachen (so bei allen Infinitiven), bei stark
gebildeten Partizipien sogar /en/, z.B. /gəˈtʁuŋk/ getrunken. Der Rhotazismus
ist nicht so häufig wie in anderen Orten, z.B. /ˈvɛdɐ/ Wetter
und nicht /ˈveːʁɐ/.
Ebenso wie in allen anderen Orten an der Mosel ist in Reil vor der Einführung des Moselfränkischen zunächst eine Art Vulgärlatein gesprochen worden, das Moselromanische.[13] Wann dieser Sprachwechsel erfolgte, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Sprachwissenschaftlern zufolge dominierte das Moselromanische noch bis in 8. Jahrhundert. Manche Sprachinseln sollen gar bis in hohe Mittelalter erhalten geblieben sein. Vermutlich existierten beide Sprachen in den einzelnen Orten zeitweise nebeneinander, bis schließlich das Fränkische, das rechts und links der Mosel schon längst dominierte, die alte Sprache ablöste. Reste des Moselromanischen haben sich noch in speziellen Winzerausdrücken erhalten. So zum Beispiel das Wort gelennen, mit dem die Nachlese der aus Versehen hängengelassenen Trauben bezeichnet wird. Dieses Wort soll von dem vulgärlateinischen Verb glenare abgeleitet sein. Ein weiteres Beispiel ist der Begriff Term, der die Grenze zwischen zwei Weinbergen bezeichnet. Die meisten Überbleibsel haben sich jedoch bei den Reiler Flurnamen erhalten, wie zum Beispiel Plantert (vom lat. plantata = angepflanzt), Breit (vom lat. pratum = Wiese), Predell (vom lat. pratellum = kleine Wiese, Vohl (vom lat. vallum = Mauer). Eine Nähe zum Wort pariete (Mauer) legt auch die heutige Pariser Straße nahe. Die steile Lehlgasse könnte ihren Namen vom mittellateinischen Wort laeula haben, was "kleiner Fels" bedeutet haben könnte. Den moselromanischen Ausdruck für Fels, - ley, lay oder auch lei geschrieben -, tragen viele Reiler Weinlagen, wie zum Beispiel Goldlay, Mullay und Falklay. Es ist ebenfalls gut möglich, daß die Bezeichnungen für die Reiler "Ortsteile" Pohl, Fischel, Stannert und Kulat auf moselromanische Begriffe zurückgehen. Kulat erinnert beispielsweise stark an collert, was Haselnussgebüsch bedeutete. Tannert, wie heute ein Waldstück zwischen Reil und Alf heißt, war der moselromanische Ausdruck für Dachslöcher.
Kurios ist auch die Erklärung des Wortes Gardin, wie das Gartenland unterhalb der Kirche genannt wird. Die Reiler leiten dieses Wort vom französischen jardin ab und begründen dies mit dem starken französischen Einfluss der vergangenen Jahrhunderte. Tatsächlich verlief die Sprachentwicklung jedoch umgekehrt. Jardin entstand aus dem galloromanischen hortus gardinus, was "abgegrenzter Garten" bedeutet. Wobei das Wort gardinus wiederum vom fränkischen gard oder gardo abgeleitet ist. Das heißt, die Reiler konservieren mit Gardin die sprachliche Wurzel von jardin und haben das Wort nicht nachträglich aus dem Französischen übernommen. Schwieriger ist dagegen die Deutung des Reiler Ortsnamens. Im ältesten erhaltenen Schriftstück, das Reil erwähnt, wird der Ort rigala genannt. Dies kann nach Ansicht von Sprachwissenschaftlern vom mittellateinischen Wort rigola abgeleitet sein, was Rinne oder Graben bedeutet. Einer anderen Theorie zufolge ist rigala aus dem lateinischen Begriff regis aula entstanden, was übersetzt Königshof heißt. Diese Namensdeutung wird damit begründet, daß die fränkischen Könige einen solchen Hof in Reil besessen haben. Wenn so viele Begriffe aus dem Moselromanischen die Zeiten überdauert haben, könnte es natürlich auch sein, daß die Reiler schon seit der damaligen Zeit Bibade heißen. Was nicht nur ein Zeichen dafür wäre, daß sie schon immer gerne ihren Wein getrunken haben, sondern auch ein Hinweis darauf, daß sie vielleicht besonders lange am Moselromanischen festgehalten haben.
Auffallend an der Morphologie des Moselfränkischen ist das völlige Fehlen einer
eigenständigen Futurform. Das im Hochdeutschen zur synthetischen Bildung
des Futurs erforderliche Hilfsverb werden ist nicht vorhanden.[14] Lediglich im Sinne von "Ich werde morgen 50
Jahre alt" /ɛɪ̯ʃ gen ˈmoʁijə ˈfuftsiʃ ˈjoɐ alt/ kann eine Form von geben
/gen/ verwendet werden, was auch für die Passiv-Bildung gilt. Weitere
morphologische Phänomene an dieser Stelle zu behandeln ist dagegen weniger
sinnvoll, da kein erfindliches Kriterium existiert, nach dem diese
ausgewählt werden könnten. Außer dem unterscheidet sich das
Reiler Platt darin nicht wesentlich von bereits wissenschaftlich untersuchten
Dialekten wie dem von Horath.
Wie jede andere Sprache auch, ist auch das Reiler Platt einer Untersuchung wert
gewesen. Wer noch weitere erwähnenswerte Phänomene darüber
kennt, teile sie mir bitte mit, damit ich sie hinzufügen kann -
schließlich ist jede Internetseite eine ewige Baustelle.
[1]Reiler Platt /ˈʁɛɪ̯lɐ plaːt/ ist die
Selbstbezeichnung der Mundart. Im allgemeinen wird unter "Platt" nur das
Niederdeutsche verstanden, vom platten Land eben. Das Tucholsky-Zitat stammt aus. "Schloß Gripsholm". In: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Band 9, 1931. Reinbek 1995, S. 11f
[2]GOETHE, JOHANN WOLFGANG VON: "Dichtung und Wahrheit". In: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 9, Autobiographische Schriften I. München 1998, S. 251
[3]Die Zeichen des Internationalen Phonetischen Alphabetes (IPA) werden von manchen Browsern nur dargestellt, wenn eine Schriftart eingestellt ist, die den entsprechenden Teil des Unicodes unterstützt (Erläuterungen zum IPA bei Wikipedia).
[4]Das englische dear bedeutet eher
teuer, wertvoll; das spanische querido eher
geliebt. Im Gegensatz zum Deutschen steht dabei das subjektive
Verhältnis des Sprechers zur betreffenden Personen im Vordergrund, das
Adjektiv wird eher attributiv als prädikativ verwendet. Im Deutschen
jedoch ist jemand lieb, nicht nur eine liebe Tante.
[5]HEINE, Heinrich: Mit scharfer Zunge. 999
Aperçus und Bonmots. Ausgewählt von Jan-Christoph
Hauschild. München 1997
[6]Iwwaloft (Luft von
oben=moselabwärts) bedeutet Westwind und damit Regen, Innaloft
(Luft von unten=moselaufwärts) bedeutet Ostwind und damit trockenes
Wetter.
[7]Nach neueren Untersuchungen im Zusammenhang
mit der Erarbeitung des Mittelrheinischen Sprachatlasses existiert zwischen dem
Rheinfränkischen und Moselfränkischen ein breites
Übergangsgebiet. Vgl.: HERRGEN, Joachim: "Kontrastive
Dialektkartographie", in: MATTHEIER; Klaus; WIESINGER, Peter (Hrsg.):
Dialektologie des Deutschen : Forschungsstand und Entwicklungstendenzen.
Tübingen 1994 S. 149
[8]Vgl.: REUTER, Elvira: Die Mundart von
Horath (Hunsrück). Hamburg 1989, S. 6ff
[9]Reuter, S. 3f
[10]Manchmal wird [ʏ] (Würfel) sogar durch
noch das relativ häufige [œ] ersetzt /ˈvœfəl/. Laut Reuter kommt [œ] im
Horather Dialekt überhaupt nicht vor, was vom Reiler Platt nicht behauptet
werden kann.
[11]Ebenfalls das kurze, offene e (wie in
Fest, Gänse).
[12]Vgl. Reuter, S. 39
[13]Siehe: JUNGANDREAS, Wolfgang: Zur Geschichte des Moselromanischen. Studien zur Lautchronologie und zur Winzerlexik. Wiesbaden 1979.
[14]Für Horath gilt dies allerdings
nicht. Vgl. Reuter, S. 4.
© Friedhelm Greis, 1996
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