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Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Fachbereich 01 Katholische Theologie

Bürgerliche Gesellschaft zwischen Verstandesstaat und Sittlichkeit: Untersuchungen zur Rechtsphilosophie Hegels

Diplomarbeit von Friedhelm Greis

Das Thema stellte Prof. Dr. A. Anzenbacher.

Mainz, Wintersemester 1994/95


Inhaltsverzeichnis


Einleitung

Wer in der heutigen Zeit nach gesellschaftlichen Spannungsfeldern und Brennpunkten sucht, wird sehr schnell fündig werden. Von Arbeitslosigkeit über Wohnungsnot, Umweltzerstörung, Fremdenfeindlichkeit und höherer Gewaltbereitschaft lassen sich viele Beispiele aufzählen. Wie die genannten Problembereiche andeuten, stehen sie in bestimmter Weise im Zusammenhang mit ökonomischen Bedingungen, andererseits berühren sie auch das Verhältnis von Gesellschaft und Einzelnem. Die Abhängigkeit von Individuum und Gemeinschaft, die Erkenntnis, daß viele Probleme gesellschaftlich gelöst werden müssen, zwingen stets aufs Neue zur Bestimmung gesellschaftlicher bzw. individueller Verantwortung. Schon wird vielerorts wieder laut nach einem Abbau sozialer Leistungen gerufen, während an anderer Stelle vermehrt vor der Desintegration großer Bevölkerungsteile und einer Gefährdung des sozialen Friedens gewarnt wird. Scheint nach den historischen Ereignissen von 1989 der Kapitalismus auch als eindeutiger Sieger aus dem Konkurrenzkampf mit den sozialistischen Systemen hervorgegangen zu sein, so zeigt sich in globaler Hinsicht, daß dieses Wirtschaftssystem weiterhin große Probleme mit sich bringt.

In diesem Zusammenhang kann es sich als sinnvoll erweisen, den Blick auf eine Analyse dieses Systems zu werfen, die in gewisser Hinsicht zu seiner Geburtsstunde erfolgte. Die Betrachtung einer solchen Analyse hat den Vorteil, den geistigen und historischen Voraussetzungen der Entstehung der heutigen Gesellschaft näher zu kommen und aus diesem Verständnis heraus seine heutige Form zu begreifen.

Eine solche Analyse besitzen wir mit den Grundlinien der Philosophie des Rechts von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der mit seiner im Jahre 1820 abgefaßten Arbeit richtungsweisende Ansätze zum Verständnis der Moderne geliefert hat. Auch wenn sich z.B. Karl Marx in vielen Punkten gegen Hegels Auffassungen wandte, so hat er doch im wesentlichen an dessen Gedankengebäude seine eigene methodische und inhaltliche Konzeption gewonnen. Gerade dadurch, daß die in Anlehnung an Marx entstandenen sozialistischen Modelle als gescheitert zu betrachten sind, kann es lohnend sein, das nicht widerlegte, wenn auch nicht realisierte "Original" zu betrachten.

In der vorliegenden Arbeit soll daher versucht werden, den Kern der Hegelschen Gesellschaftsphilosophie herauszustellen und verschiedene Aspekte, insofern sie für ein heutiges Gesellschaftsverständnis dienlich und relevant sein können, näher zu untersuchen.

Zu diesem Zweck soll zunächst versucht werden, eine aufrißartige Darstellung der Rechtsphilosophie zu liefern, damit Hegels Ausführungen als solche präsent sind und als Interpretationsgrundlage zur Verfügung stehen. Dabei kann es nicht darum gehen, lediglich die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft selbst in Erinnerung zu rufen, sondern deren Situierung im Gesamtkontext der Rechtsphilosophie zu veranschaulichen. Dazu zwingt auch der Systemcharakter der Hegelschen Konzeption, der eine zusammenhängende Darstellung erforderlich macht. Es wird daher eine Zusammenfassung und kurze Interpretation von der Einleitung über die Abschnitte Abstraktes Recht und Moralität bis hin zur Sittlichkeit geboten werden, um den Gesamtaufbau der Rechtsphilosophie und Hegels Auffassung vom Recht zu verdeutlichen. Daran schließt sich die eigentliche Darstellung der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie bei Hegel als zweiter Abschnitt innerhalb der Sittlichkeit, als Zwischenglied von Familie und Staat behandelt wird, an. Auf eine eigene Darstellung des Hegelschen Staatsaufbaus soll im Anschluß an die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft verzichtet werden, jedoch werden im weiteren Verlauf der Arbeit an erforderlicher Stelle verschiedene Elemente herangezogen werden müssen.

Der als Kritik bezeichnete zweite Teil dieser Arbeit versteht sich als Kritik im Sinne einer erläuternden Diskussion. Es kann dabei vor allem nicht darum gehen, Hegels Auffassungen im Sinne einer Idealismuskritik zu widerlegen. Es soll vielmehr versucht werden, sich so weit wie möglich in das Hegelsche Denken hineinzuversetzen, um das System aus sich selbst heraus kritisieren zu können.

Hegels Ausführungen sollen daher unter Berücksichtigung verschiedener Aspekte näher untersucht werden. In einer kurzen Vorbemerkung wird zunächst Hegels Geschichtsverständnis dargestellt werden, sowie eine Einschätzung von Hegels Gesellschaftsverständnis im Sinne der neuzeitlichen Freiheitsproblematik zu liefern sein. Über den Zwischenschritt einer Analyse des Hegelschen Standesdenkens erfolgt anschließend eine eingehende Untersuchung der Rolle der Arbeit und des Staates innerhalb der Rechtsphilosophie, da m.E. anhand der Bedeutung dieser Elemente die spezifisch Hegelschen Vorstellungen am besten zum Ausdruck kommen. Die intensive Behandlung dieser beiden Aspekte bezieht ihre Legitimation nach Meinung des Autors auch dadurch, daß sie in der gegenwärtigen Situation immer noch ein Gegenstand einer starken politischen, soziologischen und ethischen Diskussion sind und Hegels diesbezügliche Überlegungen in der heutigen Zeit am ehesten Impulse geben können.

Ebenfalls soll in dem als Kritik bezeichneten Teil der Arbeit nicht versucht werden, anhand von Sekundärliteratur die Rezeption und Interpretation der Rechtsphilosophie zu diskutieren und im Anschluß daran sich für einen Interpretationsansatz zu entscheiden. Statt dessen geht vielmehr darum, als Theologe, besonders im Bereich der Sozialethik, im Dialog mit der Philosophie zu bleiben und mit deren Hilfe eine Einsicht und ein Verständnis in gesellschaftliche Zusammenhänge zu gewinnen, das den Weg des Geistes betrachtet und über empirische Fakten hinausgeht. Zu diesem Zwecke ist eine kritische Aneignung verschiedener Theoriekonzepte unumgänglich. Es darf sich innerhalb der Christlichen Sozialethik bei der Rezeption gesellschaftsphilosophischer Konzepte in keinem Falle auf ein einziges beschränkt werden. Aus diesem Grund muß auch die Beschäftigung mit Hegel immer auf dem Hintergrund seiner Kritik und Weiterführungen zu sehen sein, auch wenn dies im Rahmen dieser Arbeit im erforderlichen Maße nicht geleistet werden kann. Da das Denken Hegels erheblichen Einfluß auf die Entwicklung der Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert hatte, können diese Strömungen höchstens angedeutet werden. Die vorliegende Arbeit versteht sich somit als Darstellung und Interpretation eines Konzeptes, von denen sich innerhalb der Sozialethik verschiedene angeeignet und aufeinander bezogen werden müssen.

Innerhalb dieser Beschreibung bleibt es nicht aus - da Hegels Denken ein geschlossenes System darstellt -, daß es in deren Verlauf hin und wieder zu Wiederholungen kommt, da zentrale Motive Hegels ebenfalls innerhalb der Rechtsphilosophie an verschiedenen Stellen auftauchen.

Des weiteren besteht die Gefahr, bei der Einbeziehung aktueller Gesellschaftsprobleme in sozialkritisches Räsonieren und Moralisieren zu verfallen, ohne den Bezug zu Hegel und zur Realität zu bewahren. Obwohl die zur Veranschaulichung herangezogenen Phänomene im Rahmen dieser Arbeit in ihrer Komplexität nur gestreift werden können, sollte dennoch nicht auf ihre kurze Behandlung verzichtet werden. Es bleibt daher nicht aus, daß die vorliegende Arbeit gelegentlich den Eindruck erweckt, eine mehr essayistische Weise der Beschäftigung mit dem Thema zu sein. Diese Einschränkung ist jedoch aufgrund der Komplexität des Themas unumgänglich, um sich nicht bei der Auseinandersetzung mit verschiedenen schwer zugänglichen und lösbaren Problematiken zu verlieren. Die in der vorliegenden Arbeit aufgezeigten Aspekte und Zusammenhänge können in vielen Fällen zumindest eine Anregung geben, sich den dargestellten Phänomenen auf eine Hegelsche Weise zu nähern und unter dieser Perspektive in einen weiterführenden Diskurs mit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu treten.

1. Situierung der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft im Gesamtkonzept der Hegelschen Rechtsphilosophie

1.1 Das Recht als »Dasein des freien Willens«

1.1.1 Herleitung des Rechts aus dem Begriff des an-und-für-sich freien Willens

In seiner Einleitung zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts versucht Hegel den Gedanken zu entwickeln, daß das Recht »Dasein des freien Willens« ist (§ 29)[1]. In der Einleitung verfolgt Hegel mehrere Ziele: Zum einen möchte er darlegen, daß entgegen der philosophischen Tradition eine positive Begründung des Rechts möglich ist (§ 29), zum anderen erläutert und begründet er die Methode seiner Abhandlung, zu guter Letzt stellt er dar, warum das Recht im Staat seine höchste Ausfaltung erfährt. Basierend auf seiner spezifischen Konzeption, daß nur der Begriff es ist, was Wirklichkeit hat und sich in der Geschichte entfaltet, entwickelt Hegel seine Rechtsphilosophie als die sich immer weiter differenzierende Bestimmung des Rechtsbegriffs als Idee der Freiheit (vgl. §§ 1, 32 Zus.).[2]

Von dieser Prämisse ausgehend, stellt sich die einfache Frage, von welcher Art dieses Recht beschaffen sein muß, damit es keine Einschränkung der Freiheit, sondern gerade deren Realisierung bedeutet; mit anderen Worten, was für Hegel die größtmögliche Verwirklichung der Freiheit ist.

Im Gegensatz zu Hegels Vorstellungen, liefen die vorhergehenden neuzeitlichen Legitimierungsversuche des staatlichen Rechts, von Hobbes über Locke und Rousseau bis Kant darauf hinaus, einen fiktiven Naturzustand der uneingeschränkten Freiheit des Einzelnen zum Zwecke eines geregelten Zusammenlebens aufzuheben. Für Hegel ist dies eine negative Bestimmung des Rechts. Auch eine positive, wie das sog. Vernunftgesetz (kategorischer Imperativ), die lediglich auf der Einhaltung formal-logischer Sätze basiert, füllt den Rechtsbegriff nicht mit Inhalt. Das liegt nach Hegels Ansicht vor allem daran, daß den Naturzustandstheorien eine Auffassung von Freiheit als reiner Willkür zugrundeliegt (§ 29). Seine eigene Konzeption sieht dagegen vor, daß es einen solchen Naturzustand nicht geben kann, sondern sich der menschliche Geist von Natur aus gemäß der Idee der Freiheit und zum Zwecke der Selbsterkenntnis zu rechtlichen Verhältnissen emporschwingt.

Um dies zu erläutern, setzt sich Hegel mit den Begriffsbestimmungen des freien Willens auseinander (§§ 5-7).

Für Hegel besteht der Begriff aus drei Momenten:

) der reinen Unbestimmtheit, Allgemeinheit

) der Besonderheit

) der Einzelheit, als Aufhebung der Besonderung im Allgemeinen. Das Moment der Unbestimmtheit entspricht dabei dem reinen Denken seiner selbst, der absoluten Abstraktion, wobei Hegel an dieser Stelle verdeutlicht, daß es zwar eine Unterscheidung von praktischem und theoretischem Verhalten gibt, aber der Wille im Denken enthalten ist (§ 4 Zus.). Das heißt, es gibt keinen Willen ohne Denken, oder etwa Denken ohne es zu wollen. Ebenfalls wehrt sich Hegel gegen die Vorstellung, daß diese Möglichkeit der absoluten Abstraktion des Ichs es ist, wozu der Wille sich bestimmt, oder daß damit Freiheit gemeint sein kann. Er bezeichnet diese Freiheit als die des Verstandes (§ 5). Aus dieser reinen Unbestimmtheit tritt das Ich nun heraus, indem es sich "setzt" und bestimmt. Auf diese Weise wird das erste Moment negiert oder "aufgehoben". Dieses Setzen ist jedoch eine Beschränkung des Allgemeinen, die aber notwendig ist, um überhaupt den Willen konkret werden zu lassen (§ 6).

Der eigentliche Begriff des Willens erfordert es nun jedoch, daß beide Momente zu einer Einheit verschmelzen, indem die Besonderheit in sich reflektiert zur Allgemeinheit zurückkehrt. Diese Stufe bezeichnet Hegel als die Einzelheit, die nichts anderes als der Begriff selbst ist. Auf diese Weise wird die Beschränkung vom Individuum nicht als solche empfunden, sondern nur als ideell angesehen, da es sie als vernünftige Realisierung der Allgemeinheit ansieht (§ 7).

Wenn das Ich nur der Form nach in sich reflektiert und bei sich seiend ist, und der Wille dabei die Freiheit nicht zum Inhalt hat, sondern lediglich formell besitzt, bezeichnet Hegel diesen Zustand als Willkür. In diesem Fall weiß der Wille zwar von seiner Freiheit, hat sie jedoch nicht zum Inhalt, so daß sie nicht gegenständlich wird und nicht erkennbar ist (§ 15 Anm.). Erst wenn der Wille nicht nur an sich sondern auch für sich frei ist, ist er die wahrhafte Idee der Freiheit (§ 21).

Im § 29 kommt Hegel schließlich nach ausreichenden Vorbemerkungen zur erwähnten positiven Definition des Rechts, indem er die Verwirklichung des freien Willens als das Recht erklärt. Daß eine positive Definition möglich ist, liegt vor allem daran, daß Hegel das Recht nicht rein im Individuum begründet sieht, sondern in der Aufhebung des Widerspruchs von Subjektivität und Objektivität im Individuum. Diese Aufhebung muß in der Weise geschehen, daß das Subjekt in der Objektivität bei sich bleiben kann, bzw. sich dabei erst erkennt. Hegel wendet sich mit seiner Auffassung gegen die Tradition, explizit gegen Kant und Rousseau. Für Hegel ist jede Bestimmung des Rechts in der Person immer noch zu abstrakt. Zwar unterscheidet sich die Person vom bloßen Subjekt dadurch, daß sie schon ein Bewußtsein von ihrer Subjektivität besitzt, andererseits ist dieses Selbstbewußtsein rein abstrakt, d.h. rein für sich. Darauf darf man laut Hegel den Rechtsbegriff nicht beschränken. Im Gegenteil, seine Aufgabe sieht Hegel gerade darin, die weitergehenden Entwicklungen des Rechtsbegriffs - welche Konkretisierungen der Idee der Freiheit darstellen -, anhand der Geschichte darzustellen. Auf dieser Basis muß er auch seine Methode auswählen, die darin besteht, eben dieser Entwicklung oder Ausfaltung des Rechtsbegriffs zuzusehen, und sich dabei die Gewalt anzutun, »nichts von unserem Meinen und Denken hinzuzugeben.« (§ 32 Zus.).

Im Laufe seiner folgenden Ausführungen geht es Hegel nun darum, zu zeigen, wie sich die Idee des an und für sich freien Willens von der Persönlichkeit über die Moralität zur Sittlichkeit emporhebt, und innerhalb der Sittlichkeit von der Familie über die bürgerliche Gesellschaft zum Staat. Diese Entwicklungen geschehen auf dialektische Weise. Hegel muß daher illustrieren, wie und warum die abstrakte unmittelbare Persönlichkeit sich nicht selbst genügt und nach außen treten muß. Diese einfache Negation der Person bezeichnet Hegel als die Moralität. Diese Moralität gilt es jedoch in Form der Sittlichkeit aufzuheben. Des weiteren kommt Hegel die Aufgabe zu, den Zerfall der (sittlichen) Familie in die bürgerliche Gesellschaft aufzuzeigen. Schließlich muß er erläutern, warum diese bürgerliche Gesellschaft nicht sittlich ist, sondern erst wieder der Staat.

Dabei fällt auf, daß Hegel überhaupt Moralität, Sittlichkeit und Weltgeschichte unter dem Thema Recht abhandelt. Dies liegt darin begründet, daß alle diese Momente Ausprägungen des Rechtsbegriffs auf einer bestimmten Stufe darstellen.

1.2 Die verschiedenen Entwicklungsstufen des Rechts

1.2.1 Das abstrakte Recht

Im ersten Teil der Rechtsphilosophie behandelt Hegel das sog. abstrakte Recht, das sich aus dem Eigentums-, Vertrags- und Unrecht zusammensetzt. Im § 40 erläutert Hegel seine eigene Unterteilung und lehnt solche ab, die das Recht nach Personen- und Sachenrecht unterscheiden. Für ihn ist zum einen jeder Mensch Person, zum anderen haben Sachen für ihn nur insoweit ein Recht, sofern sie in Beziehung zu einer Person stehen. Dies liegt daran, daß Sachen keinen Selbstzweck in sich tragen, und daher nicht um ihrer selbst willen zu schützen sind.

Im § 41 versucht Hegel nun das Eigentum als erste Stufe der Konkretisierung der Idee der Freiheit herzuleiten. Da die Person die erste, noch ganz abstrakte Bestimmung des an und für sich freien Willens ist, stellt das Eigentum, als Konkretisierung der Person, ebenfalls eine vom an und für sich freien Willen weit entfernte Realisierung der Idee der Freiheit dar. Immerhin ist es die erste Stufe in der Begriffsentwicklung; und somit ist das Eigentum in dem Sinne vernünftig, wie es »die bloße Subjektivität der Persönlichkeit aufhebt.« (§ 41 Zus.). Das Vernünftige besteht somit nicht in der Bedürfnisbefriedigung, sondern darin, daß die Person im Eigentum den ersten Schritt auf dem Weg zur Selbsterkenntnis vollziehen kann.

Da für Hegel das Recht Erkenntnischarakter besitzt, besteht der Unterschied zwischen Besitz und Eigentum nun darin, daß das Ich sich im Eigentum gegenständlich wird und somit wirklicher Wille ist. Diese Auffassung unterscheidet sich von früheren Formulierungen Hegels, wonach das Eigentum erst in der Anerkennung des anderen aus dem Besitz hervorgeht.[3] Nach der jetzigen Definition ist Eigentum daher auch Zweck-an-sich, und nicht nur Mittel zur Bedürfnisbefriedigung.

Hegel verteidigt in seiner Rechtsphilosophie die Notwendigkeit des Privateigentums. Dies hat für ihn weniger ökonomische als philosophische Gründe. Die wesentliche Bedeutung des Privateigentums liegt für ihn darin, daß der Wille sich darin bestimmen kann, d.h. konkret wird. Erst dadurch wird der andere für mich erkennbar, wird sein Wille zum Widerstand, den ich mir im Gegensatz zur Sache nicht aneignen kann. Dies ist für das Personsein des anderen unabdingbare Voraussetzung. Aus diesem Grunde ist für Hegel eine Gütergemeinschaft eine Verletzung der Menschenwürde und damit unrechtmäßig, da sie die Ausbildung des Rechts als Realisierung des an und für sich freien Willens verhindert (§ 46 Anm.).

Dennoch kann die Person nicht beim Eigentum stehenbleiben, sondern muß dieses auch entäußern, um mit anderen Willen in Beziehung zu treten und ihren eigenen Willen erkennen zu können. Jedoch läßt sich Eigentum, das immer auch Manifestation des Willens ist und damit substantielle Bestimmungen der Person beinhaltet, nicht beliebig veräußern. Da das Recht die Verwirklichung des an und für sich freien Willens ist, muß der Wille weiterhin für sich frei seiend bleiben, d.h. die Freiheit auch zum Inhalt haben. Man darf sich daher nicht freiwillig versklaven, da der Sklave nur an sich frei ist (§ 10). Natürlich hat auch niemand das Recht, einen anderen Menschen zu versklaven, wie Hegel in § 57 dezidiert darlegt. Es kommt daher immer darauf an, daß der Geist das für sich ist, was er an sich ist, d.h. seinem Begriffe nach. Hegel bezieht sich in diesem Zusammenhang auch auf Spinoza, nach dem die Freiheit nur existierend begriffen werden kann, so daß ein Paradoxon, wonach der Mensch die Freiheit besitzt, seine Freiheit aufzugeben, widerlegt wird. Daraus folgt sogar, daß selbst im Beruf gegen Entgelt kein vollständiges sich Verkaufen für ein Unternehmen erlaubt ist, da die Person sich immer einen erkennbaren Raum für die Verwirklichung ihrer Freiheit reservieren muß. Die Entäußerung ist somit eine Gratwanderung zwischen extremen Positionen.

Die vernünftige Weise der Entäußerung ist nun der Vertrag. Er hat als Besonderheit die Einheit von zwei Willen, die für sich bestehen bleiben. Weiterhin ist wichtig, daß das Eigentum in Form des Vertrages nicht mehr bloß aufgrund des eigenen subjektiven Willens existiert, sondern durch die Vermittlung mit einem anderen Willen, so daß die Grenze des subjektiven Willens überschritten wird. Diese Konzeption erinnert wiederum an die der Jenaer Frühschriften, wonach das Eigentum durch die Anerkennung des anderen aus dem Besitz entsteht. »Diese Beziehung von Willen auf Willen ist der eigentümliche und wahrhafte Boden, in welchem die Freiheit Dasein hat.« (§ 71).

Im § 75 zählt Hegel die konstituierenden Teile eines Vertrages auf, die für ihn in der Willkür, dem sich daraus bildenden identischen Willen der beiden Vertragspartner und der dem Vertrage zugrundeliegenden einzelnen äußerlichen Sache bestehen. Aus dieser scheinbar einfachen Bestimmung ergeben sich zahlreiche folgenschwere Implikationen: Zum Beispiel hebt Hegel schon an dieser Stelle hervor, daß für ihn die Ehe und der Staat nie Gegenstand eines Vertrages sein können, da sie die gesamte Persönlichkeit betreffen und nicht nur eine äußere Sache sind. Im § 163 vertieft Hegel diesen Gedanken, wobei er betont, daß das Wesen der Ehe als sittliche Größe gerade darin bestehe, die Persönlichkeit des Einzelnen aufzuheben, d.h. zu negieren, konservieren und weiterzuführen. Aus diesem Grunde gehören die Ehe und der Staat nicht zum abstrakten Recht, sondern in den Bereich der Sittlichkeit. Als weiteren Teil des abstrakten Rechts behandelt Hegel noch das Unrecht bzw. Strafrecht. Zunächst stellt sich für ihn die Frage, worin überhaupt das Wesen des Unrechts besteht bzw. wie es sich manifestiert. In erster Linie geht es dabei um Möglichkeit, den freien Willen bezwingen zu können. Für Hegel ist dies eigentlich nicht möglich, solange der freie Wille sich nur aus der Äußerlichkeit nicht zurückzieht (§ 91). Ebenfalls unterstellt er, daß nur der zu etwas gezwungen werden kann, der sich zwingen lassen will (ebd.). Daraus folgt, daß jedem Nachgeben in Zwangssituationen eine Einsicht zugrunde liegen müßte, daß das Erzwungene in diesem Augenblick akzeptierbar und gewollt ist. Diese Konzeption führt Hegel auch in bezug auf das Strafrecht aus (§ 99). Da für ihn bekanntlich das Recht die Verwirklichung der Freiheit bedeutet, stellt sich nun die Frage, wie Strafe als Teil dieses Rechts ebenfalls als ein Ausdruck von Freiheit begriffen werden kann. Eine Strafe darf in diesem Sinne nie als ein Übel angesehen werden, da es nicht einsichtig ist, warum ein Übel um eines anderen willen begangen werden soll. Ebenfalls lehnt es Hegel ab, eine Strafe als Abschreckung für einen Verbrecher anzusehen, da auf diese Weise das Handeln der Menschen nicht mehr aufgrund ihrer Freiheit, sondern aus Angst vor dieser Strafe geschähe. So bleibt ihm nur das Prinzip der Gerechtigkeit übrig, nach dem ein Verbrecher behandelt werden muß. Hegel geht dabei davon aus, daß die Strafe letztendlich zum Recht des Verbrechers gehört, d.h. seinen Willen darstellt. Schließlich handelt auch ein Verbrecher vernünftig, in dem Sinne, daß seine Handlung unter dem kategorischen Imperativ steht und seine Norm bezeichnet. Man würde ihm somit nicht gerecht werden, wenn man auf seine Bestrafung verzichten würde, da man ihm seine Rechte vorenthielte. Da die Strafe nun nicht mehr Gegenstand von Rache sein darf, muß es eine Person geben, die in dieser Strafe Gerechtigkeit als Ausdruck des allgemeinen, an sich seienden Willens verwirklicht. Es geht somit um die Wiederherstellung des Rechts, das durch das Verbrechen verletzt wurde. In dieser Reflexion auf den allgemeinen an sich seienden Willen sieht Hegel nun den Übergang zu einer höheren Sphäre des Rechts, der Moralität (§ 104).

1.2.2 Die Moralität

Das Prinzip des moralischen Standpunktes ist für Hegel das der Subjektivität. Es unterscheidet sich von dem der Persönlichkeit dadurch, daß »der Wille sich nun selbst zum Gegenstand hat und nicht nur ist.« (§ 104).

(...) der Prozeß dieser Sphäre ist, den zunächst nur für sich seienden Willen, der unmittelbar nur an sich identisch ist mit dem an sich seienden oder allgemeinen Willen, nach diesem Unterschiede, in welchem er sich in sich vertieft, aufzuheben und ihn für sich als identisch mit dem an sich seienden Willen zu setzen. (§ 106 Anm.)

Zu diesem Zwecke muß der Wille in sich reflektiert werden und die Person ein Bewußtsein von sich selbst als frei handelndem Subjekt erhalten. Im Bereich der Moralität geht es daher nicht darum, wie ein Mensch handelt, sondern ob er sich in seinem Handeln selbst wiederfindet. »Nach diesem Rechte anerkennt und ist der Wille nur etwas, insofern es das Seinige, er darin sich als Subjektives ist.« (§ 107). In der Sphäre der Moralität, d.h. dem »Recht des moralischen Willens«, untersucht Hegel zunächst das abstrakte oder formelle Recht der Handlung als vorsätzlicher, anschließend den Inhalt der Handlung als absichtlicher und in bezug auf ihren besonderen Zweck als Wohl. Schließlich bestimmt Hegel noch das Gute als das für den subjektiven Willen schlechthin wesentliche, natürlich im Bereich der Moralität noch im abstrakten Sinne (§ 131).

Zu den Besonderheiten der Hegelschen Auffassung von Moralität - zu der natürlich überhaupt die Unterscheidung von Moralität und Sittlichkeit gehört (§ 33) -, kann man zunächst die Verteidigung des Rechts des Subjekts auf die Befriedigung seiner Interessen zählen, was bedeutet, daß es sich in seinen Handlungen selbst wiederfinden soll.

Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit, macht den Wende- und Mittelpunkt im Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit. (§ 124 Anm.).

Weiterhin stellt Hegel fest, daß der moralische Standpunkt inhaltlich noch leer ist, so daß das Böse ebenfalls aus diesem hervorgehen kann. Der kategorische Imperativ schützt in diesem Sinne nicht vor der Selbstgerechtigkeit, zufällige individuelle Neigungen und Triebe als bloß reflektierte Innerlichkeit zum Allgemeinen zu erheben (§ 139). Die zwei wesentlichen Momente der Moralität, »das Gute, als das substantielle Allgemeine der Freiheit, aber noch Abstrakte,« (§ 141) und das Gewissen, als »absolute Gewißheit ihrer [der Subjektivität, d.V.] selbst in sich« (§ 136) fordern eine konkrete Bestimmung, und ihre Vereinigung, »die konkrete Identität des Guten und des subjektiven Willens, die Wahrheit derselben, ist die Sittlichkeit.« (§ 141).

1.2.3 Die Sittlichkeit

In der Sphäre der Sittlichkeit erlangt nun die Idee der Freiheit ihre Objektivierung. »Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit, als das lebendige Gute, das in dem Selbstbewußtsein sein Wissen, Wollen und durch dessen Handeln seine Wirklichkeit (...) hat.« (§ 142). Auf diese Weise definiert Hegel die Idee der Freiheit als Einheit von Selbstbewußtsein und Sein. Für Hegel sind die Institutionen der Gesellschaft ein »Zeugnis des Geistes«, an dem das Subjekt sich orientieren muß und mit denen es sich identifizieren kann als Ausdruck »von seinem eigenen Wesen« (§ 147). Diese Auffassung ergibt sich aus der Geschichtsphilosophie Hegels, nach der der Geist das Subjekt der Geschichte ist.

Was der Mensch tun müsse, welches die Pflichten sind, die er zu erfüllen hat, um tugendhaft zu sein, ist in einem sittlichen Gemeinwesen leicht zu sagen, - es ist nichts anderes von ihm zu tun, als was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt ist.(§ 150 Anm.)

Das macht deutlich, daß die Autonomie des moralischen Subjektes nicht bedeutet, sich aus der Geschichte und den daraus resultierenden aktuellen Verhältnissen zu lösen, sonder gerade durch deren Übernahme bei sich zu sein, so sie denn sittlich sind. Es geht Hegel daher in erster Linie darum, das Handeln der Vernunft in der Geschichte aufzuzeigen, damit es dem Subjekt möglich ist, den gegenwärtigen Zustand als Ausdruck dieser Vernunft zu verstehen und ihn in diesem Maße zu akzeptieren.

So soll denn diese Abhandlung, insofern sie die Staatswissenschaft enthält, nichts anderes sein als der Versuch, den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen. Als philosophische Schrift muß sie am entferntesten davon sein, einen Staat, wie er sein soll, konstruieren zu sollen; die Belehrung, die in ihr liegen kann, kann nicht darauf gehen, den Staat zu belehren, wie er sein soll, sondern vielmehr, wie er, das sittliche Universum, erkannt werden soll. (...) Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Es ist ebenso töricht zu wähnen, irgendeine Philosophie gehe über ihre gegenwärtige Zeit hinaus, als, ein Individuum überspringe seine Zeit, springe über Rhodus hinaus. (Vorrede, S. 26)

Das Sittliche erscheint somit »in der einfachen Identität mit der Wirklichkeit der Individuen« und wird zu einer »zweiten Natur«, die die »durchdringende Seele, Bedeutung und Wirklichkeit ihres Daseins ist, der als eine Welt lebendige und vorhandene Geist, dessen Substanz so erst als Geist ist.« (§ 151). Dennoch ist es für Hegel immer auch die Besonderheit, die der Geist braucht, um sich zu verkörpern (§ 154). Die Trennung von Recht und Pflicht wird »in dieser Identität des allgemeinen und besonderen Willens« aufgehoben, da sich das Individuum vollkommen mit der Sitte, d.h. dem Geist seiner Familie und seines Volkes identifiziert (§§ 155, 156).

Hegel versucht nun im folgenden darzustellen, inwieweit dieser Geist sich in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat in vernünftiger Weise verobjektiviert hat.

2. Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft

2.1 Bürgerliche Gesellschaft zwischen Familie und Staat

2.1.1 Der Übergang der Familie in die bürgerliche Gesellschaft

Die Charakteristiken der bürgerlichen Gesellschaft im spezifisch Hegelschen Sinne und seit Hegel im allgemeinen Verständnis sind eindeutig ein Phänomen der Moderne. Dies wird schon daran deutlich, daß Hegel die bürgerliche Gesellschaft im systematischen Aufbau innerhalb der Sittlichkeit situiert und somit das abstrakte Recht und die Subjektivität als deren Voraussetzungen ansieht. Dasselbe gilt daher auch für die Familie. Das heißt, die Familie, aus deren Auseinanderfallen Hegel die bürgerliche Gesellschaft entstehen sieht, stellt den Typus der modernen bürgerlichen Kleinfamilie dar. Diese Familienart besitzt andere Funktionen und bedarf anderer Voraussetzungen als diejenige der vormodernen Selbstversorgerwirtschaft, die die gesamte Subsistenzvorsorge mitübernahm und daher wirtschaftlich eine ganz andere Bedeutung hatte. Jede Ehe begründet für Hegel eine neue Familie (§ 172). Die Ehe wiederum hat als objektiven Ausgangspunkt die »freie Einwilligung der Personen, und zwar dazu, e i n e Person auszumachen.« (§ 162). Da die Ehe die Subjektivität voraussetzt, ist sie mehr als ein Vertrag, wie Hegel schon im Bereich des abstrakten Rechts angegeben hatte und im § 163 weiter ausführt. Da die Familie als Person sich ebenfalls konkretisieren muß, bedarf sie eines Vermögens, das entgegen dem abstrakten Eigentum bereits sittlich ist, da es sich auf ein Gemeinsames bezieht (§§ 169-170). Als weiteres Moment der Ehe tritt nun die Erziehung der Kinder hinzu, die selbst eine Objektivierung und Vergegenständlichung der elterlichen Liebe darstellen. Die Aufgabe der Eltern besteht dabei vor allem darin, die Kinder selbst wieder zu Persönlichkeiten zu erziehen, die fähig sind, »aus der natürlichen Einheit der Familie zu treten.« (§ 175). Damit wird die »sittliche Auflösung der Familie« (§ 177) schon angedeutet. Aus der gesamten Konzeption der Familie wird deutlich, daß es außerhalb des familiären Rahmens einen Ort geben muß, in dem die einzelnen selbständigen konkreten Personen sich begegnen und auf eine zunächst noch nicht vermittelte Weise in ihren Willen zueinander in Berührung treten. Für Hegel hat dieses Auseinanderfallen der Familie nun zur Folge, daß deren Sittlichkeit, die nur natürlich und zufällig war, verlorengeht (§ 181). Besonderheit und Allgemeinheit, als die beiden Momente der Idee, sind zwar aufeinander bezogen, aber die Allgemeinheit ist nur scheinbar die Bestimmung der Besonderheit. In Wirklichkeit sind beide Momente auseinandergetreten.

2.1.2 Der äußere Staat

Wie Hegel in § 182 Zus. anmerkt, ist die Trennung von Staat und bürgerlicher Gesellschaft eine Differenzierung, die zu seiner Zeit noch längst nicht Allgemeingut im Bereich des Staatsrechts war. Das, was viele seiner Zeitgenossen bereits als Staat bezeichneten, d.h. »eine Einheit verschiedener Personen, (...) die nur Gemeinsamkeit ist« (§ 182 Zus.), ist für Hegel gerade die Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft. Ungeachtet der Frage, wie sich der jeweilige Staat "oberhalb" der bürgerlichen Gesellschaft von dieser unterscheidet, setzt die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft immer einen Staat voraus. Geht dieser Staat nicht über die Bestimmungen der bürgerlichen Gesellschaft hinaus, bezeichnet Hegel ihn als "äußeren" Staat, bzw. Not- und Verstandesstaat (§ 183). Dieser Staat ist ein System, das lediglich die Befriedigung des selbstsüchtigen Zwecks ermöglichen soll. Die Allgemeinheit und das Wohl aller sind darin nur in der Weise enthalten, in welcher sie zur Befriedigung der Bedürfnisse des einzelnen erforderlich sind. Im § 258 Anm. wehrt sich Hegel noch einmal gegen dieses Staatsverständnis, indem er betont:

Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in der Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit gesetzt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus ebenso, daß es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staates zu sein.

Gerade das Verhältnis von Staat und Gesellschaft stellte sich in der Nachfolge Hegels als eines der schwierigsten dar. Wenn beide voneinander zu trennen sind, heißt das dann, daß der Staat mittels einer "vernünftigen" Regierung die Gesellschaft in seinem Sinne gestalten kann? Oder sind die dominierenden gesellschaftlichen Kräfte so stark, daß sie den Staat ebenfalls unter ihrer Kontrolle halten und für ihre Zwecke instrumentalisieren? Oder sollte gar der Staat in keinen Falle über den des "äußeren" hinausgehen, um den einzelnen gesellschaftlichen Kräften ihre ungestörte Entfaltung zum Wohle der Allgemeinheit zu ermöglichen? Diese Problematiken, d.h. ob und wie der Staat in die Gesellschaft eingreifen soll und wie die gesellschaftlichen Interessen in staatliche überführt werden können, wird einen Großteil der in Kap. 4.5 Die Rolle des Staates in der Hegelschen Rechtsphilosophie zu führenden Diskussion ausmachen.

2.2. Grundprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft

2.2.1 Besonderheit und Allgemeinheit

Für Hegel wird die bürgerliche Gesellschaft dadurch charakterisiert, daß die »konkrete Person, welche sich als besondere Zweck ist«, das eine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht, während die Allgemeinheit, vermittels derer das Individuum seine Bedürfnisse befriedigen kann, ihr zweites Prinzip ist (§ 182). Besonderheit und Allgemeinheit haben als Momente der Idee jeweils ein besonderes Dasein (§ 184). Die Besonderheit hat zwar das Recht, sich nach ihren Interessen nach allen Seiten zu ergehen, jedoch steht die Allgemeinheit über ihr, da sie sich als Grund und Zweck der Besonderheit sieht und ihre notwendige Form darstellt. Durch diese nur formelle Vermittlung von Besonderheit und Allgemeinheit ergeben sich die Bestimmungen, die Hegel im § 15 über die Willkür auseinanderlegte. Die Befriedigung der Bedürfnisse ist in der bürgerlichen Gesellschaft nur zufällig, was zur Folge hat, daß das Individuum sich darin nicht wiederfinden kann. So stellt Hegel resigniert fest:

Die bürgerliche Gesellschaft bietet in diesen Gegensätzen und der Verwicklung das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinsamen physischen und sittlichen Verderbens dar. (§ 185)

Unter Allgemeinheit versteht Hegel nun alle Einrichtungen, derer sich die Besonderheit als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung bedient, bzw. die als solches Mittel erscheinen (§ 187), da sich die Allgemeinheit in Wirklichkeit als letzten Zweck der Besonderheit erweist (§ 184). Diese Allgemeinheit erscheint so instrumentalisiert und die konkrete Person steht in der Spannung, einerseits in dieser eine Beschränkung zu sehen, andererseits auf sie angewiesen zu sein. Die Individuen empfinden sich daher nur formell als Teil dieser Allgemeinheit. In derselben Weise jedoch, wie die Besonderheit die Einrichtungen der Allgemeinheit braucht, sind letztere wiederum auf die Besonderheit angewiesen, die sie z.B. finanziert (§ 184 Zus.).

2.2.2 Die Vermittlung von Besonderheit und Allgemeinheit

Die Spannung zwischen den beiden aufgeführten Momenten der Idee ist für Hegel nicht ungefährlich:

Die selbständige Entwicklung der Besonderheit ist das Moment, welches sich in den alten Staaten als das hereinbrechende Sittenverderben und der letzte Grund des Untergangs derselben zeigt. (§ 185 Anm.)

Es mangelte in früheren Epochen an einem Prinzip, durch das diese Ansprüche der Besonderheit ausgehalten und wieder zusammengeführt werden konnten. Andererseits illustriert Hegel am Beispiel des platonischen "Idealstaates", daß jede prinzipielle Ausklammerung dieses Momentes ebenfalls ein Scheitern des Staates zur Folge hat (§ 185 Anm.). Hegel beurteilt die Besonderheit, das »Prinzip der selbständigen in sich unendlichen Persönlichkeit des Einzelnen, der subjektiven Freiheit« (§ 185 Anm.) dahingehend, daß es, indem es sich für sich zur Totalität entwickelt, in die Allgemeinheit übergeht (§ 186). Die daraus entstehende Einheit ist jedoch noch nicht sittlich, da beide Prinzipien ihre Selbständigkeit noch nicht aufgegeben haben, so daß sie nur notwendig und nicht frei miteinander vermittelt sind.

Die einzelnen Individuen als Privatpersonen kommen daher aus eigenem Interesse dazu, »ihr Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise (zu) bestimmen« (§ 187). Das Interesse der Idee liegt jedoch darin,

(...) die Einzelheit und Natürlichkeit derselben durch die Naturnotwendigkeit ebenso als durch die Willkür der Bedürfnisse zur formellen Freiheit und formellen Allgemeinheit des Wissens und Wollens zu erheben, die Subjektivität in ihrer Besonderheit zu bilden. (§ 187)

Damit befindet sich Hegel in einer Zwischenposition zur Bewertung von Bildung und Arbeit im Vergleich zu Rousseau und liberalistischen Konzepten. Für ihn ist die Arbeit weder etwas »Äußerliches, dem Verderben Angehöriges«, noch »bloßes Mittel für jene Zwecke« (§ 187 Anm.). Die Arbeit ist daher als Objektivierung des Geistes im wesentlichen Teil des Selbsterkenntnisprozesses des Geistes.

Seine Freiheit hat so in derselben ein Dasein, und er wird in diesem seiner Bestimmung zur Freiheit an sich fremden Elemente für sich, hat es nur mit solchem zu tun, dem sein Siegel aufgedrückt und von ihm produziert ist. (...) Die Bildung ist daher in ihrer absoluten Bestimmung die Befreiung und die Arbeit der höheren Befreiung, nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit. (§ 187 Anm.)

Anders gesagt, im Arbeitsprozeß wird es möglich, die Sittlichkeit als substantielle Bestimmung des Subjektes zu realisieren und dessen Freiheit zu konkretisieren. In diesem Prozeß der Objektivierung des subjektiven Willens wird die Idee der Sittlichkeit wirklich und ermöglicht die Herausbildung der freien Subjektivität (§ 187 Anm.).

3. Darstellung der Momente der bürgerlichen Gesellschaft

3.1 Gliederung der gesellschaftlichen Elemente

Für Hegel enthält die bürgerliche Gesellschaft drei konstituierende Elemente (§ 188):

-

die Vermittlung der Bedürfnisse des Einzelnen und aller im System der Bedürfnisse
-
der Schutz der bürgerlichen Freiheiten in der Rechtspflege
-
die Vorsorge gegen Zufälligkeit und Besorgung des besonderen Interesses als eines Gemeinsamen durch Polizei und Korporation

3.2 Das System der Bedürfnisse

3.2.1 Das System der Bedürfnisse als Wirtschaftsordnung

Unter die Überschrift Das System der Bedürfnisse fällt bei Hegel der gesamte Bereich der wirtschaftlichen Betätigungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Für ihn ist wirtschaftliches Handeln zunächst Befriedigung eines subjektiven Bedürfnisses (§ 189). Seine Objektivierung findet dieses Bedürfnis zum einen in äußeren Mitteln, wie dem Eigentum, zum anderen in der Arbeit. Dieses System der Bedürfnisbefriedigung, da es auch die Allgemeinheit betrifft, folgt bestimmten Regeln, die von der Volkswirtschaftslehre analysiert werden können. Die Vermittlung der Bedürfnisse, insofern sie sich artikulieren können, ist für Hegel ein »interessantes Schauspiel« (§ 189 Zus.). Da dieses Schauspiel von keiner Person gesteuert wird, sondern sich scheinbar von selbst organisiert, können diese Regeln nur auf der Ebene des Verstandes liegen. Die Vernunft scheint in diese Sphäre nur hinein (§ 189).

3.2.2 Die Art des Bedürfnisses und der Befriedigung

Im Bereich der Analyse der menschlichen Bedürfnisse bleibt Hegel zunächst auf der anthropologischen Ebene. Die menschlichen Bedürfnisse unterscheiden sich von denen des Tieres dadurch, daß sie an keine bestimmte angebbaren Grenzen gebunden sind. Der Mensch verfügt somit über einen Spielraum an Freiheit, da er an keinen bestimmten Lebensraum oder eine bestimmte Lebensweise gebunden ist (§ 190 und Zus.) Aus diesem Grunde haben sich im Laufe der Geschichte die Bedürfnisse vervielfältigt und partikularisiert (ebd.). Es hat sich somit ein Mechanismus zu einer immer weiter gehenden Spezialisierung der Mittel zur Bedürfnisbefriedigung ergeben, der jedoch nicht zu einer endgültigen Befriedigung führt, sondern selbst wieder neue Bedürfnisse hervorruft (§ 191). Darüber hinaus konstatiert Hegel, daß häufig Bedürfnisse aus reiner Gewinnsucht geweckt werden (§ 191 Zus.), eine Feststellung, die auch heute noch Gültigkeit besitzt. Bei der Herstellung von Gütern und der Befriedigung seiner Bedürfnisse muß sich das Individuum nun an der Gesellschaft orientieren und versuchen, beide Momente miteinander auszugleichen. Das Individuum ist somit von der Allgemeinheit abhängig, sowohl von den Mitteln, die sie bereitstellt, wie von den Gütern, derer sie bedarf und die gemäß den Fertigkeiten des Individuums von ihm erbracht werden können (§ 192). In diesem Beziehungsgeflecht herrscht zum einen eine Tendenz zur Vereinheitlichung, gewissen Trend- und Modeerscheinungen zu folgen, andererseits existiert auch der Wunsch nach Exklusivität, wodurch wiederum neue Bedürfnisse geschaffen werden. Dieser Vorgang der Verlagerung der Bedürfnisweckung und -befriedigung in die Sphäre der Gesellschaft ist für Hegel eine Befreiung aus dem Naturzustand. Damit wendet er sich gegen die Auffassung Rousseaus, im Naturzustand sei der Mensch "frei", wogegen er in der Gesellschaft in ein Korsett von unnatürlichen Konventionen gezwängt würde. Gerade aber der Naturzustand, in dem der Geist nur in sich versenkt ist und sich nicht reflektiert und verobjektiviert hat, ist für Hegel derjenige der geringsten Freiheit (§ 194 Anm.). Dennoch kann diese Art der Befreiung nur formeller Natur sein, da sie die Interessen der Besonderheit zum Inhalt hat (§ 195). Formelle Freiheit schließt immer auch mögliche konkrete Abhängigkeit und Not ein, denn ob das, was jedem offen steht, auch von allen erreicht werden kann, bleibt nach diesem Prinzip zunächst dem Zufall überlassen. Es gibt schließlich keine Instanz, die bestimmte Bedürfnisse, auch wenn sie offenkundig Luxus sind und auf der anderen Seite große Not herrscht, verbietet. Die kapitalistische Industriegesellschaft offenbart für Hegel schon an dieser Stelle ihre Schattenseiten.

3.2.3 Die Art der Arbeit

Die Vermittlung von Bedürfnis und Mittel wird durch die Arbeit geleistet. Da die wenigsten Produkte in der Natur in der Weise vorhanden sind, daß sie den immer spezifischeren menschlichen Bedürfnissen gerecht werden, müssen sie durch immer spezialisiertere Arbeitsmethoden hergestellt werden (§ 196). Die Arbeit selbst ruft nun sowohl eine theoretische wie eine praktische Bildung hervor, d.h. eine Schulung des Verstandes und der Geschicklichkeit beim Arbeiten (§ 197). Innerhalb der Arbeit ist es nun möglich, die Individualität über die Gewohnheit hinaus ganz zu abstrahieren, so daß es möglich wird, die geleistete Arbeit auf maschinelle Vorgänge zu reduzieren. Die Arbeitsteilung, die zunächst wirtschaftlich effektiveres Produzieren zur Folge hat, führt damit zu einfacheren und abstrakteren Arbeitsprozessen und schließlich zum Ersetzen der menschlichen Arbeitskraft durch Maschinen.[4]

3.2.4 Das Vermögen

Auch wenn der Einzelne in der bürgerlichen Gesellschaft zunächst nur aus Eigennutz wirtschaftlich tätig wird, führt das letzten Endes dazu, daß die Summe der produzierten Waren und Dienstleistungen prinzipiell allen zur Verfügung steht. Das Sozialprodukt ist somit der Pool, aus dem der Einzelne gemäß seiner Bildung und Geschicklichkeit seine Subsistenz schöpfen kann. Dieses »allgemeine, bleibende Vermögen« besitzt Parallelen zu dem der Ehe, da es ebenfalls ein Gemeinsames ist (§ 199). Dennoch ist diese Gemeinsamkeit noch nicht sittlich, da sie zum einen nur auf einer Notwendigkeit beruht, zum anderen den Anteil des Einzelnen nur als Möglichkeit und nicht als Ziel hat (ebd.). Beim Vermögen der Ehe ist dagegen das Wohl der gesamten Familie das Ziel, und »die Eigensucht der Begierde verändert sich hier in die Sorge und den Erwerb für ein Gemeinsames, in ein Sittliches.« (§ 170). An dieser Stelle werden somit zwei sittliche Defizite des Systems der Bedürfnisse deutlich: Zum einen das Recht auf das besondere Wohl, das durch die nur formelle Allgemeinheit nicht berücksichtigt wird, zum anderen das fehlende Bewußtsein des allgemeinen Wohls, das der Inhalt des moralischen Bewußtseins und Handelns sein sollte. Beide Aspekte werden später von Hegel im Abschnitt Polizei und Korporation entwickelt. Hegel geht bei der Beschreibung des allgemeinen Vermögens nicht auf den Unterschied von Produktions- und Konsumgütern ein. Beide Arten gehören zu diesem Vermögen, das formell von jedem erworben werden kann. Das Eigentum an Produktionsmitteln ist für ihn ein Faktor, der den Erwerb von besonderem Vermögen ermöglicht. Im § 200 untersucht Hegel nun die Bedingungen zum Erwerb eines besonderen Vermögens, das die Teilnahme am allgemeinen Vermögen darstellt. Diese Möglichkeit der Teilnahme ist von den unterschiedlichsten Umständen abhängig und führt schließlich zu einer ungleichen Verteilung der Vermögen. Hegel unterscheidet dabei zunächst zwischen dem Kapital, als »unmittelbarer eigener Grundlage« und der Geschicklichkeit, als Fähigkeit zum Vermögenserwerb (ebd.). Die Möglichkeit des Gelderwerbs durch Arbeit ist dabei von den vielfältigsten sozialen, körperlichen und geistigen Ausgangssituationen abhängig und führt notwendigerweise wiederum zu unterschiedlichem Vermögenserwerb. Ohne daß Hegel an dieser Stelle eine Wertung vornimmt, wird deutlich, daß Kapitalbesitz eine gewisse Befreiung von natürlichen Veranlagungen des Individuums in bezug auf Einkommenserwerb gestattet. Ebenfalls erkennt Hegel klar, daß sich große soziale Unterschiede ergeben, wenn die Teilnahme am allgemeinen Vermögen auf diese Weise durch Zufälligkeit und Willkür geregelt wird. Dennoch wendet er sich entschieden gegen die Forderung, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft zu verhindern und in sozialer Hinsicht Gleichheit einzuklagen. Er begründet dies zunächst damit, daß es zum »objektiven Rechte der Besonderheit des Geistes« gehört, die natürlichen menschlichen Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft auszuformen (§ 200 Anm.). Dabei spricht er vom »Rest des Naturzustandes«, der in der bürgerlichen Gesellschaft weiter fortbesteht (ebd.). Schon in der Anmerkung zum § 5 hatte sich Hegel gegen die Freiheit des Verstandes gewehrt, von jeder Differenzierung der Gesellschaft zu abstrahieren und beim bloß Allgemeinen stehenzubleiben. Er dachte dabei an die Terrorphase der Französischen Revolution, die er als Ausfluß rousseauschen Denkens betrachtete. So fügt er noch hinzu, daß es die in der Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft liegende Vernunft sei, die diese in ein organisches Ganzes von Unterschieden gliedere. Somit vertritt Hegel die These, daß soziale Unterschiede, insofern sie auf vernünftigen, d.h. legitimierten Standesunterschieden beruhen, berechtigt sind. Es obliegt ihm nun die Aufgabe, diese Differenzierung von Wirtschaft und Gesellschaft zu beschreiben.

3.2.5 Die Differenzierung der Gesellschaft

Trotz der unendlichen Ausfaltung der Mittel, die zur Bedürfnisbefriedigung erforderlich sind und von der Gesellschaft bereitgestellt werden müssen, lassen sich bestimmte besondere Systeme heraustrennen, denen die einzelnen Individuen zugeteilt sind (§ 201). Hegel bezeichnet diese besonderen Systeme als Stände, die in ökonomischer Hinsicht nur bedingt den heutigen Wirtschaftssektoren entsprechen. Der Begriff "Stand" scheint bewußt aus der vormodernen Epoche übernommen worden zu sein, da er auch bei Hegel eine gewisse Totalität beansprucht. Das heißt, der Bereich, in dem ein Mensch tätig ist, gehört zu dessen wesentlicher Bestimmung. Es ist notwendig für das Individuum, daß es sich »ausschließend auf eine der besonderen Sphären des Bedürfnisses beschränkt« (§ 207). Der wirtschaftlichen Differenzierung entspricht somit eine gesellschaftliche, und zur Aufgabe des Individuums gehört es, gemäß seinem Stand zu leben, so daß es sich nicht für sich allein »in seiner Besonderheit für das Allgemeine halten« darf (§ 207 Zus.). Die Differenzierung der Gesellschaft in Stände, die nicht nur aus Gründen der Arbeitsteilung sinnvoll ist, hat auch Auswirkungen auf die politische Willensbildung. Der Einzelne ist nur über seinen Stand mit dem ganz Allgemeinen, dem Staat, vermittelt, so daß es für Hegel nicht möglich ist, am Stand vorbei, in Form eines allgemeinen und freien Wahlrechts, den Bürger an der Politik zu beteiligen (§ 303). Der gesellschaftlichen Differenzierung wird auf diese Weise Rechnung getragen, so daß es keine Parteien, sondern Ständevertreter gibt, die »als vermittelndes Organ betrachtet, (...) zwischen der Regierung überhaupt einerseits und dem in die besonderen Sphären und Individuen aufgelösten Volke andererseits (stehen).« (§ 302). Die Aufteilung der bürgerlichen Gesellschaft in Stände und damit in die verschiedenen Rechts- und Lebenswelten gehört zu den wesentlichen Elementen der Gesellschaftsauffassung Hegels. Die Individualisierung der Moderne bedeutet für ihn keine absolute Homogenisierung bzw. Gleichmacherei (vgl. § 5 Anm.). Die Vermittlung und Identifizierung von Individuum und Staat ist in den komplexen modernen Gesellschaften nicht mehr in derselben Weise möglich wie in der antiken Polis. Sie erfolgt in erster Linie über die Arbeit als Mitglied eines Standes, der sich seinerseits wieder als Teil des allgemeinen Zweckes, des Staates, weiß.

3.2.6 Die Aufteilung der verschiedenen Stände

Nach Hegel bestimmen sich die verschiedenen Stände »nach dem Begriff als der substantielle oder unmittelbare, der reflektierende oder formelle und dann als der allgemeine Stand.« (§ 202). Der Entstehung eines bestimmten Standes liegen somit geistige Entwicklungen zugrunde, die sein Entstehen ermöglichen. Der substantielle Stand bewirtschaftet den Boden, der auch Privatbesitz sein kann. (§ 203). Interessanterweise setzt Hegel die Einsetzung von Grundeigentum und der Familie parallel an: Der Grundbesitz bedarf der Familie zu seiner Bewahrung, wogegen die Familie den Boden braucht, um für ihre Subsistenz sorgen zu können. Beide Elemente tragen daher zu einer Stabilisierung gesellschaftlicher Strukturen bei, die einen Staat aufrechterhalten können und aus diesem Grunde unter dessen besonderem Schutz stehen. Hegel hebt an dieser Stelle den im vorhergehenden Abschnitt angesprochenen Aspekt hervor, daß dieser Stand (Bauernschaft und Adel), ebenso wie die beiden anderen Stände, aufgrund seines besonderen, hier »substantiellen» Charakters, in rechtlicher und kultureller Hinsicht eine Eigenbehandlung erfährt (§ 203 Anm.).

Der zweite Stand ist der eigentlich die Industriegesellschaft prägende. Hegel bezeichnet ihn auch als den Stand des Gewerbes, der den Handwerksstand, den Fabrikantenstand und den Handelsstand umfaßt (§ 204). Während der erste Stand in ruhigem Vertrauen auf Gott von der Natur die Gaben des Bodens empfängt, verdankt der Gewerbestand sein Fortkommen einzig und allein seiner eigenen Arbeit und seinem unternehmerischen Handeln. Diesem Stand obliegt es, die Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse, soweit es keine Naturprodukte sind, herzustellen und untereinander zu vermitteln. Der Stand des Erwerbsbürgers ist nach Hegel ein Produkt der Städte.5

Schließlich existiert für Hegel noch ein dritter Stand, der »die allgemeinen Interessen des gesellschaftlichen Zustandes« zur Aufgabe hat (§ 205). Für ihre Subsistenz müssen die Staatsdiener entweder aus eigenem Vermögen sorgen können, oder sie müssen vom Staat alimentiert werden, damit auch sie ihr »Privatinteresse« befriedigen können (ebd.).

Schon an dieser Stelle wird deutlich - da man sich fragt, wo die Masse der einfachen Angestellten und Arbeiter ihren Platz hat -, daß es mit der Organisation des zweiten Standes etwas besonderes auf sich haben muß, da dort, z.B. im Fabrikantenstand, sowohl Arbeiter als auch Unternehmer integriert sein müssen. Wie Hegel dieses Problem zu lösen versucht, wird im Abschnitt 5.3.2 Die Korporation zu sehen sein.

3.2.7 Das Recht auf freie Berufswahl

Hegel postuliert zwar die Aufteilung der Gesellschaft in Stände, d.h. einem nominell mittelalterlichen Ordnungsprinzip, überläßt jedoch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand der »subjektiven Meinung und der besonderen Willkür« (§ 206). Dabei geht er davon aus, daß sich die Verteilung auf die einzelnen Stände nach einer »inneren Notwendigkeit« vollzieht, aber dem Einzelnen als das »Werk seines Willens« erscheint (ebd.). Es ist somit jeder Person selbst überlassen - natürlich nicht gänzlich frei von ihrer Sozialisation -, in welchen Stand sie einzutreten gedenkt. Gerade durch diese Möglichkeit, daß jeder entsprechend seiner Veranlagung und in Übereinstimmung mit seinem Willen sich seinen Platz in der Gesellschaft bestimmen kann, erhält die bürgerliche Gesellschaft ihre Lebendigkeit. Zwar ist die freie Bestimmung des Standes durch das Subjekt immer noch ein Ausdruck von Willkür, jedoch erhält sie ihr Recht dadurch, daß sie zu dem führt, »was in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat durch die Vernunft notwendig ist« (§ 206 Anm.). Hegel versucht damit dem Prinzip der Differenzierung und dem neuzeitlichen Freiheitsgedanken gerecht zu werden, indem er dem Individuum einerseits das Recht zubilligt, einen bestimmten Stand zu wählen, andererseits es darauf verpflichtet, gemäß dieses und nur dieses Standes zu leben und darin seine Bestimmung zu sehen (§ 207). Dieses Verhalten, gemäß seinem Stande zu leben, bezeichnet Hegel mit Rechtschaffenheit und es bewirkt die Standesehre. Beides zusammen garantiert die wirtschaftliche Subsistenz und die gesellschaftliche Anerkennung des Individuums, so daß es auf diese Weise mit der Allgemeinheit vermittelt ist (ebd.). Hegel billigt es dem Individuum zunächst zu, sich gegen eine solche dauernde Festlegung auf eine Arbeits- und Lebensweise zu sträuben, schreibt dieses Widerstreben jedoch »dem abstrakten Denken, das an dem Allgemeinen und Unwirklichen stehenbleibt«, zu (§ 207 Anm.).

Die Frage, ob hier eine fundamentale Fehleinschätzung des Freiheitsbewußtseins vorliegt, das sich nicht auf eine bestimmte soziale Rolle festlegen lassen will und nach gesellschaftlichem Ausgleich strebt, wird weiter unten diskutiert werden müssen.[6]

3.2.8 Die Verwirklichung des abstrakten Rechts

Zum System der Bedürfnisse gehört es, daß das Recht des Eigentums, als Ausdruck der Willkürfreiheit, geschützt ist (§ 208). Zu diesem Zweck bildet sich die staatliche Rechtspflege heraus, die somit noch zum sog. Not- und Verstandesstaat gehört. Hegel versucht nun die Grundbedingungen anzugeben, die es ermöglichen sollen, daß diese abstrakten Freiheitsrechte garantiert werden können. Zunächst ist es notwendig, daß eine Gleichheit der Personen vor dem Recht existiert (§ 209 Anm.). Diese Gleichheit fordert die Vorstellung vom Individuum als allgemeine Person, die den Menschen als Menschen nimmt und nicht aufgrund seiner Nationalität oder Konfession behandelt. Zu den weiteren Voraussetzungen der Wirklichkeit des abstrakten Rechts gehören noch die Rechtspositivität, Rechtstransparenz und Rechtswirksamkeit.

In diesem Sinne behauptet Hegel in seinen Ausführungen, daß das Recht als Allgemeines gesetzt werden muß, d.h. zum Gesetz und damit zum positiven Recht wird (§ 211). Daß es dabei zum Gegensatz zwischen positiven Recht und Naturrecht kommen kann, wird von Hegel nicht bestritten. Schon im § 3 hatte er auf deren Gegensatz Bezug genommen und deren Verhältnis bestimmt. Zum Recht des subjektiven Willens gehört nun,

(...) daß das, was er als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde und daß ihm eine Handlung, als der in die äußerliche Objektivität tretende Zweck, nach seiner Kenntnis von ihrem Werte, den sie in dieser Objektivität hat, als rechtlich oder unrechtlich, gut oder böse, gesetzlich oder ungesetzlich zugerechnet werde. (§ 132)

Daraus folgt, daß man sich mit dem geltenden Rechte bekanntzumachen hat und, darin eingeschlossen, die Notwendigkeit, »daß die Gesetze allgemein bekannt gemacht seien.« (§ 215). Diese Bekannt- und Verständlichmachung ist letztlich ein »großer Akt der Gerechtigkeit« (§ 215 Anm.). Die gesetzliche Anerkennung und Gültigkeit von Privateigentum und Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft führen schließlich dazu, daß Verbrechen gegen diese einen Angriff auf die Allgemeinheit und somit eine andere Bewertung derselben hinsichtlich Gefährlichkeit und Strafe implizieren.

Der Ort der Rechtsprechung ist in der bürgerlichen Gesellschaft allein das Gericht, als unabhängige Instanz, dem sich auch Fürsten und Regierung unterstellen müssen (§ 219). Das Gericht vertritt nun den allgemeinen Willen, wie er schon im Abschnitt Unrecht als Teil des abstrakten Rechts entwickelt wurde (vgl. § 102). Jedes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft muß sich nun diesem allgemeinen Willen stellen, wie er im Gericht verkörpert wird, ohne Privatrache üben zu dürfen (§ 221). Das Gericht muß nun den Anspruch erfüllen, in seiner Rechtsprechung einen nachvollziehbaren Rechtsweg zu durchlaufen. Zu diesem gehört u.a. die Öffentlichkeit der Rechtspflege, was alles dazu führen soll, daß betroffene Bürger »Zutrauen« zum Rechte haben, Entscheidungen akzeptieren können und »die Bürger die Überzeugung gewinnen, daß wirklich Recht gesprochen wird.« (§ 224 Zus.).

Alles in allem führt der gesamte Bereich der Rechtspflege dazu, daß die Auseinanderdividierung von Besonderheit und Allgemeinheit zumindest im Einzelfall wieder aufgehoben wird, und das auch nur innerhalb des abstrakten Rechts. Bei dieser Weise der Verbindung von Besonderheit und Allgemeinheit darf die Gesellschaft jedoch nicht stehenbleiben, so daß Hegel sich im weiteren Verlauf mit anderen Ausprägungen dieser Verbindung, Polizei und Korporation befaßt.

3.3 Die Polizei

3.3.1 Zum Begriff Polizei

Der Begriff Polizei, unter dem Hegel die unterschiedlichsten öffentlichen Aufgaben subsumiert, entspricht nicht mehr dem heutigen Verständnis von Polizei als Institution zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Verbrechensbekämpfung. Die Trennung von polizeilich und politisch, was beides auf das griechische Polis zurückgeht, wird hier nicht explizit vollzogen. Die allgemeine Aufgabe der Polizei besteht darin, die ungestörte Sicherheit der Person und des Eigentums zu gewährleisten und für die Sicherung der Subsistenz und des Wohls des Einzelnen zu sorgen (§ 230). Zur Lösung dieses Ziels bestehen nach Hegel zwei Aufgabenkreise, die er im § 231 für die Polizei angibt: Zum einen die Aufstellung einer äußeren Ordnung, die das ungestörte Funktionieren des Systems der Bedürfnisse garantiert und gegen immanente Störungen zu schützen versucht, zum anderen eine Absicherung des Individuums gegenüber seiner Abhängigkeit von Umständen, die seine Existenzsicherung gefährden könnten.[7]

3.3.2 Die Polizei als Ordnungsmacht

Der Polizei als Hüterin der inneren Ordnung kommt natürlich die Aufgabe zu, begangene Verbrechen zu verfolgen und drohende zu verhindern. Jedoch kann es schon innerhalb der garantierten Freiheitsrechte passieren, daß es bei deren Ausnutzung zu einer Kollision mit den Interessen anderer oder der Allgemeinheit kommt (§ 232)[8]. Auch in diesem Fall muß die Polizei versuchen, Schaden von Individuen oder der Allgemeinheit abzuwenden. Die Möglichkeit, daß durch eine solche Handlung Schaden entsteht, reicht aus, um sie als Unrecht einzustufen und gegen sie vorzugehen (§ 233). Es darf in diesem Sinne keine Zufälligkeit bleiben, ob ein Schaden eintritt, wenn seine allgemeine Schadenspotentialität bekannt ist. Dabei entsteht die Problematik, ab wann eine bestimmte Handlung als schädlich eingestuft werden soll (ebd.). Für Hegel läßt sich eine solche Bestimmung nicht objektiv angeben, sondern sie muß jeweils der konkreten Situation angepaßt werden.[9] Dennoch räumt Hegel ein, daß die Polizei auf diese Weise durch das Hinzukommen von Zufälligkeit und Willkür in das Allgemeine etwas »Gehässiges« erhält (§ 234 Zus.), d.h. die Individuen fühlen sich unter Umständen durch deren unbeschränkte Regelungs- und Eingriffskompetenzen in ihren Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt.[10] Hegel setzt sich an dieser Stelle nicht mit der Frage auseinander, inwieweit die Befriedigung des besonderen Zwecks, auf dem die Wirtschaft basiert, dadurch beeinträchtigt wird und die Initiative der Individuen drosselt, ein Problem, das bei der Diskussion über das Verhältnis von staatlicher und privater Wirtschaftstätigkeit ebenfalls noch einmal thematisiert werden muß.

3.3.3 Wirtschaftspolitik

Auch im Bereich der Wirtschaft gibt es nach Ansicht von Hegel für die öffentliche Macht Handlungsnotwendigkeiten. Im § 235 bezieht Hegel sich zunächst auf gewisse Infrastrukturmaßnahmen, die dafür Sorge tragen, daß die verschiedenen hergestellten Güter auf dem Markt unter geordneten Verhältnissen miteinander vermittelt werden können. Wenn die Wirtschaft als Marktwirtschaft konzipiert ist, muß es ganz konkret möglich sein, Zugang zum Markt zu haben und sich auf dessen Funktionieren verlassen zu können. Doch darin erschöpft sich für Hegel noch nicht die staatliche Wirtschaftspolitik. Es gilt zum Beispiel mit Hilfe einer »mit Bewußtsein vorgenommenen Regulierung«, d.h. einer geschickten Steuerungspolitik, die Marktgesetze so zu gebrauchen, daß sich die Interessen von Konsumenten und Produzenten auch in sozialer Hinsicht die Waage halten und Angebot und Nachfrage dem wirklichen Bedarf entsprechen (§ 236). Ebenfalls ist es im Interesse der Allgemeinheit, daß die produzierten Waren einem bestimmten Qualitätsstandard entsprechen, der staatlicherseits kontrolliert werden soll (ebd.).

Schließlich kann es auch nicht Aufgabe der einzelnen Unternehmen oder gar Individuen sein, Verhältnisse zu überschauen, die über ihren eigentlichen Horizont hinausgehen, aber dennoch Einfluß auf ihren Lebensvollzug haben können. Die nationale und internationale Arbeitsteilung und die Abstraktheit des Marktes, für den produziert wird, machen es erforderlich, daß auf dieser Ebene Vorkehrungen getroffen werden, die einen kontinuierlichen Arbeitsprozeß ermöglichen (ebd.).

Die Frage nach dem wirtschaftlichen Einfluß bzw. der ökonomischen Eigentätigkeit des Staates wird seit jeher stark diskutiert. Auch Hegel nimmt in der Anmerkung zu § 236 dazu Stellung. Er vergleicht zunächst die Extrempositionen eines ökonomischen Liberalismus mit dem Sozialismus, d.h. einer zentral gesteuerten Wirtschaftstätigkeit. Prinzipiell befürwortet Hegel Gewerbe- und Handelsfreiheit, jedoch räumt er ein, daß es notwendig sei, »die gefährlichen Zuckungen und die Dauer des Zwischenraums, in welchem sich die Kollisionen auf dem Wege bewußtloser Notwendigkeit ausgleichen sollen, abzukürzen und zu mildern.« (§ 236 Anm.). Natürlich kann Hegel hier keine konkreten Angaben machen, auf welche Weise der Staat Konjunkturpolitik betreiben soll, aber zumindest stellt er fest, daß es nicht der Wirtschaft, die auf den individuellen Interessen basiert, allein überlassen werden kann, die ihr eigenen Zeiträume zum Ausgleich der Interessen zu bestimmen und währenddessen davon betroffene Personen darunter leiden zu lassen. Daher fordert Hegel: » (...) die Gewerbefreiheit darf nicht von der Art sein, daß das allgemeine Beste in Gefahr kommt.« (§ 236 Zus.).

3.3.4 Gesellschafts- und Sozialpolitik

Trotz der Fülle der Möglichkeiten und Freiheiten, die die bürgerliche Gesellschaft dem Individuum bietet, seine eigenen Interessen zu verwirklichen und dabei am allgemeinen Vermögen teilzuhaben, räumt Hegel ein, daß eine Reihe von »Zufälligkeiten« eintreten könne, die die Teilnahme der Individuen an diesem allgemeinen Vermögen verhindere (§ 237). Problematisch wird diese Tatsache dadurch, daß in der bürgerlichen Gesellschaft die Einzelfamilie als subsistenzversorgende Einheit ausfällt und das Individuum auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen ist: »So ist das Individuum Sohn der bürgerlichen Gesellschaft geworden, die ebensosehr Ansprüche an ihn, als er Rechte auf sie hat.« (§ 238). Die bürgerliche Gesellschaft wird somit zur alles bestimmenden Größe »und unterwirft das Bestehen der ganzen Familie selbst, der Abhängigkeit von ihr, der Zufälligkeit.« (ebd.). Des weiteren muß die Gesellschaft auch darüber wachen, daß die Familie ihre Kinder zu fähigen Mitgliedern der Gesellschaft erzieht (§ 239). Das heißt, auch in diesem Falle darf es die Allgemeinheit nicht dem Zufall überlassen, ob die Kinder später als Mitglieder der Gesellschaft in der Lage sind, ihre Interessen zu vertreten und sich so mit der Allgemeinheit zu vermitteln. Dieser Anspruch der bürgerlichen Gesellschaft stößt laut Hegel bei den Eltern oft auf taube Ohren, da sich darin ein Interessenskonflikt zwischen Gesellschaft und Eltern verbirgt, wobei letztere eine unumschränkte Freiheit bzw. Willkür im Bereich der Erziehung zu besitzen glauben (§ 239 und Zus.). Einer Gesellschaft darf es jedoch nie gleichgültig sein, in welcher Verfassung die Familie ihre Kinder in diese entläßt. Somit erhebt sie den Anspruch darauf, daß die Kinder die Schule besuchen und daß deren Inhalte und Durchführung öffentlich bestimmt und kontrolliert werden (ebd.).[11]

Im folgenden geht es Hegel darum, festzustellen, wie die Gesellschaft zu reagieren hat, wenn Teile ihrer Mitglieder nicht mehr in der Lage sind, für ihre Subsistenz zu sorgen. Im § 240 bezieht er sich zunächst auf Fälle von Verschwendungssucht, die betroffene Familien an den Rand des Ruins treiben. In diesem Falle muß der Staat die Vormundschaft der betreffenden Personen übernehmen. Dabei geht es nicht nur darum, Menschen vor dem Verhungern zu bewahren, »sondern der weitere Gesichtspunkt ist, daß kein Pöbel entstehen soll.« (§ 240 Zus.). Um diese Problematik geht es auch im darauffolgenden Paragraphen. Nicht nur durch Verschwendungssucht, d.h. Willkür, können Individuen in Armut verfallen, sondern durch vielfältigste Umstände (§ 241). Hegel charakterisiert diesen Zustand der Individuen dadurch, daß er »ihnen die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft läßt«, aber »sie aller Vorteile der Gesellschaft, Erwerbsfähigkeit von Geschicklichkeiten und Bildung überhaupt, auch der Rechtspflege, Gesundheitssorge, selbst oft des Trostes der Religion usf. mehr oder weniger verlustig macht.« (ebd.) Auch in diesem Falle muß der Staat anstelle der Familie einspringen und für die Subsistenz der Betroffenen sorgen, nicht nur, damit ihrer augenblicklichen Not abgeholfen wird, sondern damit sie sich in ihrer weiteren Einstellung gegenüber der Gesellschaft nicht gegen diese wenden. Von daher ist es auch erforderlich, daß die Armenfürsorge nicht der subjektiven Mildtätigkeit überlassen, sondern aus diesem Kreise in eine allgemeine Institution überführt wird (§ 242). Dies schließt nicht ein, daß das Individuum von jeder eigenen Hilfstätigkeit abgehalten werden soll, ganz im Gegenteil, jedoch kann »Lampenbrennen bei Heiligenbildern« für Hegel letztlich keine Straßenbeleuchtung ersetzen (§ 242 Anm.).

3.3.5 Die Dialektik der modernen Industriegesellschaft

Obwohl man zum Zeitpunkt der Abfassung der Grundlinien der Philosophie des Rechts um das Jahr 1820 zumindest in Deutschland noch nicht vom Einsetzen der industriellen Revolution sprechen konnte, waren am Beispiel Englands, als der industriell fortgeschrittensten Nation der Welt, schon all die Phänomene studierbar, die über kurz oder lang alle weiteren europäischen Staaten erfassen und zur eigentlichen Sozialen Frage führen sollten. Darum erschien es auch für Hegel notwendig, auf die Tatsache bestimmter Erscheinungen hinzuweisen und Lösungen dafür anzubieten. Am Beginn seiner Betrachtungen steht zunächst die Feststellung des Klassengegensatzes (§ 243). Da in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr jeder für seine eigene Subsistenz sorgt, sondern die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit besteht, auf dem allgemeinen Markt seine Bedürfnisse zu befriedigen, kann durch die industrielle Produktion für die Allgemeinheit ein großer Reichtum angehäuft werden. Dieser Möglichkeit stehen jedoch »Abhängigkeit und Not« derer gegenüber, die lediglich aufgrund ihrer Arbeit für die Produktion ihren Lebensunterhalt bestreiten müssen und dadurch nicht in den Genuß »der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft« kommen können (ebd.). Im § 244 beschreibt Hegel dann die Entstehung des Proletariats (Pöbels), die an ein »Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise« geknüpft ist. Dieses Leben unterhalb des Existenzminimums bedeutet nicht nur eine Einschränkung im materiellen Sinne, sondern entwertet auch die Arbeit, da sie es nicht mehr ermöglicht, durch eigene Tätigkeit ein angemessenes Leben zu führen. Die Abhängigkeit dieser Menschen wird dadurch noch größer, so daß sie noch leichter ausgebeutet werden können. Der Gegensatz von Arbeit und Kapital wird damit durch die Gesetze das Marktes vergrößert (ebd.).

Hegel unterscheidet dabei zwischen Armut und Pöbel: Die Grenze, ab der ein Mensch als arm bezeichnet wird, ist von Land zu Land verschieden, jedoch wird unter "Pöbel" die Gesinnung verstanden, nach der sich jemand gegen die ihm gegenüberstehenden »Reichen, gegen die Gesellschaft, gegen die Regierung usw.« auflehnt und sich ungerecht behandelt fühlt, bzw. durch seine Armut gänzlich die Initiative verliert, sich wieder als vollständiges Mitglied der Gesellschaft zu fühlen und sich wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern (§ 244 Zus.). In diesem Sinne stellt Hegel fest: »Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.« (ebd.).

In diesem Zusammenhang weist er nachdrücklich darauf hin, daß es bei der Beseitigung der Arbeitslosigkeit nicht darum gehen soll, durch finanzielle Umverteilungsmaßnahmen die Beschäftigungslosen materiell zu versorgen, weil es notwendig ist, daß der Einzelne sich durch seine Arbeit mit der Gesellschaft vermittelt (§ 245). Andererseits sieht Hegel die Gefahr, daß es bei Vollbeschäftigung zu einer Überproduktion wegen Mangels an Konsumenten kommt und dadurch die Arbeiter wieder ihren Arbeitsplatz verlieren (ebd.). Die bürgerliche Gesellschaft ist somit nicht in der Lage, mit der »Erzeugung des Pöbels« mit Hilfe ihres eigenen Instrumentariums und selbst »bei dem Übermaße des Reichtums« fertig zu werden (ebd.). Durch diese »Dialektik« wird die bürgerliche Gesellschaft dazu gezwungen, die eigene Überproduktion zu exportieren, um auf diese Weise sowohl ihre Mitglieder vollständig zu beschäftigen als auch das Ergebnis dieser Arbeit vollständig veräußern zu können (§ 246).[12] Dies erhöht für Hegel ebenfalls die Bedeutung des internationalen Handels, da er die Wirtschaft mit Rohstoffen versorgt und mit Absatzmärkten verbindet. Eine weitere Notwendigkeit der Expansion der damaligen aufstrebenden Industrienationen bestand auch durch die bereits im § 243 festgestellte »fortschreitende Bevölkerung«. Millionen von Menschen aus allen Staaten Europas trieb es aus wirtschaftlichen, politischen und religiösen Gründen vor allem im 19. Jahrhundert in die neue Welt. Hegel unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen sporadischer und systematischer Kolonisation (§ 248).[13] Auch an diesem Gedanken wird sichtbar, wie schwer es erschien, die aufkommenden Probleme innerhalb der betreffenden Staaten selbst zu lösen.

Aus dieser der Industriegesellschaft immanenten Dialektik führt nach Hegel schließlich nur das Prinzip, daß »nach der Idee die Besonderheit selbst dieses Allgemeine, das in ihren immanenten Interessen ist, zum Zweck und Gegenstand ihres Willens und ihrer Tätigkeit macht.« (§ 249). Dies läßt sich in der Korporation verwirklichen.

3.4 Die Korporation

3.4.1 Die Korporation als die soziale Organisation des Gewerbestandes

Schon im Abschnitt 5.1.4.1 Die Aufteilung der verschiedenen Stände war die Frage aufgeworfen worden, wie sich Hegel den Gewerbestand, den er in Handwerks-, Fabrikanten- und Handelsstand unterteilte (§ 204), organisiert dachte. Schließlich war es gerade der Fabrikantenstand, in dem die Spannungen zwischen Arbeit und Kapital am augenfälligsten in Erscheinung traten. Es gilt daher auch für den zweiten Stand eine Organisationsform zu finden, in der das Besondere mit dem Allgemeinen vermittelt ist und letzteres zum Inhalt hat. Für Hegel ist diese Vermittlung im ersten Stand natürlich gegeben; und der allgemeine Stand hat »in seiner Bestimmung das Allgemeine zum Zwecke seiner Tätigkeit und zu seinem Boden.« (§ 250). Problematisch ist diese Vermittlung jedoch beim Gewerbestand, bei dem das Allgemeine zunächst nur Mittel zur Befriedigung der besonderen Bedürfnisse zu sein scheint. Die Folgen davon hat Hegel bereits ausführlich geschildert.[14] Es geht also darum, in der Industriegesellschaft jegliche Arbeit so zu konzipieren, daß es den Arbeitenden möglich ist, sich als Teil einer arbeitenden Allgemeinheit zu verstehen, deren Erhaltung und Wohl auch ihr Zweck ist, und ihre Arbeit somit sittlich macht. Diese Vermittlung ist laut Hegel nur in der Genossenschaft, die er im folgenden als Korporation bezeichnet, möglich (§ 251). Die einzelnen Korporationen bilden sich entsprechend den verschiedenen Industriezweigen und Berufen (ebd.).

3.4.2 Aufgaben und Kompetenzen der Korporation

Die Korporation als sittliche Größe tritt für ihre Mitglieder als »zweite Familie« ein (§ 252). Innerhalb ihrer eigenen Bestimmungen ist sie autonom, d.h. in wirtschaftlicher Hinsicht kann sie, zwar unter einer gewissen staatlichen Aufsicht, ihre eigenen Entscheidungen treffen. Diese betreffen zunächst die Auswahl und die Ausbildung ihrer Mitglieder, für die sie später auch soziale Funktionen übernimmt, da sie ihnen näher steht als die »entferntere bürgerliche Gesellschaft« (ebd.). Die Korporation soll nicht nur eine begrenzte Versorgung ihrer Mitglieder ermöglichen, sondern übernimmt die Vorsorge für »den ganzen Umfang« ihrer Subsistenz (§ 252 Anm.) Mitglied in einer Korporation zu sein ist im Gegenzug dazu kein »zufälliger Dienst« (ebd.). Die Korporationen besitzen in der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund ihrer Sittlichkeit auch Privilegien, die Hegel ebenso wie andere Standesmerkmale verteidigt (ebd.).[15] Die entscheidende Aufgabe der Korporation liegt jedoch in der Versittlichung des Kapitals in der Weise, daß zum einen den in der Korporation stehenden Familien ein sicheres standesgemäßes Einkommen garantiert wird, zum anderen die Anhäufung von Reichtümern als scheinbaren Standes-(Status)symbolen überflüssig wird (§ 253). Das immaterielle Gut, das ein solches Denken ersetzt, ist für Hegel die Standesehre (ebd.). Die bloße Mitgliedschaft in der Korporation verschafft dem Individuum seine Anerkennung, es hat die Dialektik von Herr und Knecht schon überwunden.[16] Innerhalb der Korporation verliert denn auch Armutsfürsorge ihren demütigenden und Reichtum seinen neiderregenden Charakter (§ 253 Anm.). Wenn ein Mitglied der Korporation aufgrund widriger äußerer Umstände der Hilfe der Gemeinschaft bedürftig wird, ist es sein gutes Recht, versorgt zu werden, andererseits gibt es keinen wirtschaftlichen Gewinn, der nicht auch sozialpflichtig wäre (ebd.). Die gesellschaftlichen Spannungen und Differenzen infolge der ungleichen Verteilung des Vermögens sollen dadurch aufgehoben werden. Ebenfalls scheint es keinen ruinösen Wettbewerb, der für betroffene Arbeitnehmer und Industrielle unangenehme Folgen haben könnte, zwischen einzelnen Unternehmen zu geben.

Ohne Zweifel liegt bei einer Vergenossenschaftlichung der gesamten Wirtschaft eine starke Regulierung und Planung zugrunde, die Hegel jedoch damit begründet, daß die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit »zur Vernünftigkeit bestimmt« ist (§ 254). Diese Bestimmung ist in dieser Form sehr vage, und es bleibt offen, wie die Einschränkung der unternehmerischen Initiative genau festgelegt werden soll.

Die Aufgaben und Kompetenzen der Korporation sind in diesem Konzept sehr umfangreich und weitgehend. Es geht dabei vor allem um die Vermittlung von individuellen und allgemeinen Interessen in dem Sinne, daß die Notwendigkeit der formellen Allgemeinheit auch das besondere Wohl ihrer Mitglieder nicht aus dem Blick verlieren darf, wenn sie sich nicht selbst untergraben will. Innerhalb der Wirtschaft besitzt die Korporation daher eine monopolartige Stellung und unterliegt der Gefahr der Selbstgenügsamkeit und des Stillstandes, was es erforderlich macht, daß sie »unter der Aufsicht der öffentlichen Macht« liegt (§ 252), so daß sie nicht »in sich verhausen und zu einem elenden Zunftwesen herabsinken« kann (§ 255 Zus.).

3.4.3 Korporation als sittliche Institution

Wie schon mehrfach erwähnt, liegt das Entscheidende an der Bildung der Korporation darin - Hegel setzt es mit der »Einführung des Ackerbaues und des Privatvermögens in einer anderen Sphäre« gleich (§ 253 Anm.) -, daß »die Momente der subjektiven Besonderheit und der objektiven Allgemeinheit (...) auf innerliche Weise vereinigt (sind), so daß in dieser Vereinigung das besondere Wohl als Recht und verwirklicht ist« (§ 255). Familie und Korporation sind für Hegel daher die beiden sittlichen Elemente innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die letztlich auch deren Antagonismen und Widersprüche aufheben können (§ 255 Anm.). Dabei räumt Hegel ohne weiteres ein, daß es problematisch sein könnte, Korporationen wieder als wirtschaftliche Grundeinheiten ins Leben zu rufen. Gerade die Abschaffung des Zunftwesens und die Einführung der Handels- und Gewerbefreiheit haben zur extremen Beschleunigung des Produktions- und Innovationsprozesses in der Gesellschaft beigetragen und sind ein signifikanter Ausdruck der modernen Individualisierungstendenzen. Außerdem wird die »allgemeine Tätigkeit« (§ 255 Zus.), die Hegel nur in der Korporation im besonderen und der Arbeit im allgemeinen als realisierbar erachtet, innerhalb anderer, sowohl liberalistischer als auch rousseauistischer Staatsauffassungen, durch direkte politische Beteiligung für möglich erachtet. Für Hegel dagegen erscheint es sehr schwierig, daß sich die Bürger in erster Linie über die Beteiligung an der politischen Willensbildung mit dem Staat identifizieren:

In unseren modernen Staaten haben die Bürger nur beschränkten Anteil an den allgemeinen Geschäften des Staates; es ist aber notwendig, dem sittlichen Menschen außer seinem Privatzwecke eine allgemeine Tätigkeit zu gewähren. (ebd.)

Da Hegel an der notwendigen Differenzierung der Gesellschaft festhält, andererseits weit von radikaldemokratischen Vorstellungen entfernt ist, verlegt er die Identifizierung des Individuums mit dem Allgemeinen auf die persönliche Sphäre des Einzelnen innerhalb seiner Arbeitstätigkeit. Die Aktualität dieses Konzepts und seine Realisierungsmöglichkeiten stellen wesentliche Momente innerhalb der weiter unten zu führenden Diskussion dar.

3.4.4 Der Übergang von bürgerlicher Gesellschaft in den Staat

Die bisherigen Ausprägungen der bürgerlichen Gesellschaft haben laut Hegel noch nicht ihren Grund in sich selbst. Es ist vielmehr der Begriff des Staates, der alle bislang behandelten Momente aus sich entläßt und somit »Resultat« und »wahrhafter Grund« derselben ist (§ 256 Anm.). Diese Entwicklung aufzuzeigen ist schließlich der »wissenschaftliche Beweis« des Begriffs des Staates (ebd.). Die bisherigen Elemente sind nur Teilverwirklichungen der Idee des Staates und haben ihre Wahrheit nur darin, daß sie im Staat, als dem allgemeinen Zweck, zusammengeführt und aufgehoben werden. Der Staat ist somit der Abschluß der Entwicklung der Freiheit auf ihrem Weg vom Abstrakten zum Konkreten. Nur im Staat kann die Freiheit auf größtmögliche Weise verwirklicht werden, so daß Familie und bürgerliche Gesellschaft ihren Zweck in ihm haben. Für Hegel ist der Staat daher die »Wirklichkeit der sittlichen Idee«, weil die Vermittlung des Einzelnen mit der Allgemeinheit nur darin ihren letzten Zweck finden kann.

Die Aufgaben und das Verhältnis der einzelnen staatlichen Institutionen untereinander darzustellen, oder darüber hinaus die Beziehungen der souveränen Staaten untereinander zu beschreiben, kann nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. Dennoch werden im weiteren Verlauf der Diskussion an erforderlicher Stelle verschiedene Besonderheiten des Hegelschen Staatsaufbaus erläutert erden müssen, um das besondere Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu veranschaulichen.

4. Kritik an der Hegelschen Konzeption

4.1 Vorbemerkungen

4.1.1 Hegels Gesellschafts- und Geschichtsverständnis

Hegels Gesellschaftsphilosophie unterscheidet sich in ihrem prinzipiellen Aufbau wenig von anderen derartigen Unternehmungen: Zum einen wird die Gesellschaft in ihrem aktuellen Zustand analysiert, andererseits werden die Bestimmungen der menschlichen Existenz dargestellt und zu guter Letzt werden Wege angegeben, wie diese am besten in einer zu verändernden Gesellschaft zu verwirklichen sind. Über diese prinzipielle Übereinstimmung hinaus beschreitet Hegel jedoch gänzlich eigene Wege. Seine Geschichtsauffassung weicht von der bis dahin gängigen Philosophie beträchtlich ab; des weiteren hat er für die Bestimmung des modernen Menschen entscheidende Neuansätze geliefert. Beide Aspekte gilt es bei der Kritik an der Gesellschaftstheorie, die in den Grundlinien der Philosophie des Rechts zum Ausdruck kommt, zu berücksichtigen.[17] Für Hegel sind die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse ein Produkt der geistesgeschichtlichen Entwicklung. Im Laufe der Geschichte haben für ihn Erkenntnisprozesse stattgefunden, in denen der Geist ein immer größeres Bewußtsein seiner selbst und seiner Freiheit erhalten hat. Der Geist, der sich mit der Natur in einen ungeheuren Widerspruch zu sich selbst begeben hat, kommt im Verlaufe der menschlichen Geschichte zu sich selbst und ist somit das eigentliche Subjekt dieser Geschichte. Als unendlicher Geist ist er jedoch gezwungen, sich zu verkörpern: sich in den endlichen Geistern, den Menschen, zu verobjektivieren. Den gesamten Prozeß dieser Selbsterkenntnis des Geistes hat Hegel vor allem in der Phänomenologie des Geistes dargestellt. In gewisser Hinsicht sind die Ausführungen der Rechtsphilosophie eine genauere Ausfaltung dieser Geschichtsauffassung, so daß es für Hegel in erster Linie darum geht, die zu seiner Zeit vorhandenen Objektivierungen des Geistes als Produkt einer durch die Vernunft geleiteten Entwicklung zu begreifen.[18] Seine wichtigste Aufgabe besteht daher darin, die in der Geschichte geschehenen geistigen Entwicklungsprozesse zu deuten und damit den Erkenntnisstand seiner Epoche zu erfassen. Dieser Stand der Erkenntnis ist entscheidend für die Objektivierungen des Geistes, denen der subjektive Geist entsprechen muß. Darüber hinaus zu gehen ist nicht möglich, ebenso wenig wie wieder eine Stufe zurückgegangen werden kann. Ein Fortschritt ist natürlich möglich, jedoch geschah dieser in der Geschichte nicht gesteuert, sondern wurde durch Ereignisse und menschliche Individuen langsam in die Wege geleitet. Die Menschheit ist somit eine unbewußt durch die »List der Vernunft« gesteuerte Masse, durch die der Geist zu einem immer größeren Bewußtsein seiner selbst gelangt. Die Philosophie ist in diesem Sinne höchste Wissenschaft, weil sie diese Bewegung herleitet.

In bezug auf den einzelnen Menschen hat sie die Aufgabe, diese Bestimmungen »für seine Zeit« anzugeben und die Vernünftigkeit der Objektivierungen des Geistes, d.h. der gesellschaftlichen Institutionen, aufzuzeigen.[19] Dies ist ein Ausdruck des Glaubens an das Ideal der griechischen Polis, in der die Bürger in Übereinstimmung mit den Zielen der Gemeinschaft lebten und auf diese Weise den höchsten Grad der Freiheit genossen. Die dortige Übereinstimmung war eine natürliche, wogegen eine heutige das Prinzip der Subjektivität berücksichtigen muß und auf der Vernunft basiert.

Hegel stand daher vor der Aufgabe, das seit der Französischen Revolution konkret gewordene Freiheits- und Unabhängigkeitsstreben mit der Angewiesenheit auf eine Gemeinschaft zu verbinden. Frei kann ein Individuum für Hegel nur dann sein, wenn es die Vernünftigkeit der Regeln seiner Gemeinschaft einsieht, akzeptiert und danach lebt, sich somit als Teil eines größeren zu wollenden Ganzen begreift, mit dessen Bestimmungen es übereinstimmt. Diese Zusammenhänge müssen bei der Kritik an den Hegelschen gesellschaftsphilosophischen Ausführungen berücksichtigt werden.

4.2 Bürgerliche Gesellschaft als Ausdruck modernen Freiheitsverständnisses

4.2.1 Neuzeitliche Entwicklungen bis zur Zeit Hegels

Seit Beginn der Neuzeit, der Wende zum Subjekt, bis zur Zeit Hegels waren schon viele Schranken weggefallen, die die Lebensvollzüge der Menschen über Jahrhunderte hin bestimmt hatten. Zahlreiche bis dahin ungestattete Freiheiten hatten sich ihr Recht erkämpft und die Auffassung des Staates und seiner Herrscher, eine von Gott eingesetzte Institution oder Person zu sein, hatte sich dahingehend gewandelt, daß sie eine auf Zustimmung der Individuen und einer Verfassung basierenden Einrichtung zum Wohle aller sein sollten. Die Französische Revolution, das zentrale politische Ereignis in der Jugend Hegels, hatte zunächst die Manifestationen des ancien régime hinweggefegt, aber die Terrorphase der Jakobinischen Schreckensherrschaft hatte Hegel gezeigt, daß eine rein auf dem Gedanken der völligen Identität von individuellem und gesellschaftlichem Willen aufgebaute Staatsauffasung den menschlichen Verschiedenheiten nicht gerecht wird.[20] Andererseits konnte hinter den Freiheitsgedanken nicht mehr zurückgegangen werden, so daß sich die Gesellschaft dem Problem gegenübergestellt sah, die erkämpften Freiheitsrechte zu garantieren und gleichzeitig dafür zu sorgen, daß der Einzelne durch die erlangte Freiheit nicht orientierungslos vor sich hin wirtschafte und sich darin verliere, sondern daß er sich dennoch in dieser ihn umgebenden Gesellschaft als Teil einer Allgemeinheit wisse, die auch sein Zweck sei und die vice versa sein Wohl intendiere.

Auch Hegel geht nicht hinter diejenigen Freiheitsrechte zurück, die er innerhalb der Rechtsphilosophie unter dem Titel Abstraktes Recht abhandelt. Ausgangspunkt ist dabei der Gedanke, den Menschen als rechtsfähige Person aufzufassen und von ihm zu verlangen: »Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.« (§ 36). Auf dieser Grundlage läßt sich das Recht der Person auf Eigentum entwickeln und wird ihr die Fähigkeit zugestanden, mit anderen Personen Verträge über Eigentum oder berufliche Fertigkeiten abzuschließen. Eigentums- und Vertragsrecht werden deshalb auch in der Rechtspflege unter besonderen Schutz der allgemeinen Macht gestellt.

4.2.2 Wirtschaftliche Freiheiten in der bürgerlichen Gesellschaft

Beide oben genannten Rechte garantieren so zunächst die Handels- und Gewerbefreiheit, die als Basis des wirtschaftlichen Agierens innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft dient. Andererseits besteht die Motivation für wirtschaftliche Betätigung darin, Mittel zur Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse zu erwerben. Da die Mitglieder darin frei sind, auf ihre eigene Weise diese Mittel zu erwerben, erscheint es zunächst unwahrscheinlich, daß diese Willkür es ermöglichen kann, die vielfältigsten Bedürfnisse der Einzelnen zu befriedigen. Diese Vermittlung der Bedürfnisse ist nur über den Markt möglich, und tatsächlich scheint diese Vermittlung zur Steuerung von Angebot und Nachfrage auszureichen. Hegel hatte sich in seiner Frankfurter Zeit eingehend mit der Klassischen Nationalökonomie beschäftigt und erkannt, daß dieses »Wimmeln von Willkür« bestimmten Regeln folgt, die letztlich die Befriedigung der Bedürfnisse der Allgemeinheit durch persönliches Gewinnstreben fördern (§ 189 und Zus.). Bis zu diesem Punkt stimmt Hegel mit liberalen Wirtschaftstheoretikern überein, die der Auffassung sind, daß die Einführung einer freien Marktwirtschaft nicht nur die Wirtschaft am meisten belebe, sondern auf dieser Basis auch stabile soziale Verhältnisse eintreten werden, da die ökonomischen Erfolge die Subsistenz des allergrößten Teils der Bevölkerung garantiere. Bei dieser Ansicht bleibt Hegel jedoch nicht stehen. Für ihn wirft die Konzeption einer Wirtschaft, die die Befriedigung des besonderen Wohls dem Zufall überläßt, eine Reihe von Fragen auf (vgl. § 185). Schon in der Einleitung hat er die für ihn fundamentale Unterscheidung von Freiheit und Willkür getroffen:

Die Reflexion, die formelle Allgemeinheit und Einheit des Selbstbewußtseins, ist die abstrakte Gewißheit des Willens von seiner Freiheit, aber sie ist noch nicht die Wahrheit derselben, weil sie noch nicht sich selbst zum Inhalte und Zwecke hat, die subjektive Seite also noch ein anderes ist als die gegenständliche; der Inhalt dieser Selbstbestimmung bleibt deswegen auch schlechthin nur ein Endliches. Die Willkür ist, statt der Wille in seiner Wahrheit zu sein, vielmehr der Wille als der Widerspruch. (§ 15 Anm.)

Aber gerade diese Willkür bestimmt für Hegel die Befriedigung der Bedürfnisse in dieser rein formellen Allgemeinheit, der freien Marktwirtschaft.

Der Wille ist also um dieses Inhalts willen nicht frei, obgleich er die Seite der Unendlichkeit formell an sich hat; ihm entspricht keiner dieser Inhalte: in keinem hat er wahrhaft sich selbst. In der Willkür ist das enthalten, daß der Inhalt nicht durch die Natur meines Willens bestimmt ist, der meinige zu sein, sondern durch Zufälligkeit; ich bin also ebenso abhängig von diesem Inhalt, und dies ist der Widerspruch, der in der Willkür liegt. Der gewöhnliche Mensch glaubt, frei zu sein, wenn ihm willkürlich zu handeln erlaubt ist, aber gerade in der Willkür liegt, daß er nicht frei ist. (§ 15 Anm.)

Daraus folgt, daß für Hegel die bürgerliche Gesellschaft nicht dann zur wirklichen Freiheit führen kann, wenn sie lediglich dazu dient, die willkürlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Befriedigung rein willkürlicher Bedürfnisse hinterläßt nicht nur subjektiv ein Gefühl von Leere, sondern hat auch objektiv starke gesamtgesellschaftliche Widersprüche zur Folge. Dies liegt zum Teil auch daran, daß die Bedürfnisse des Menschen keinen abgeschlossenen Bereich beinhalten, sondern »der Mensch erweitert durch seine Vorstellungen und Reflexionen seine Begierden, die kein beschlossener Kreis wie der Instinkt des Tieres sind, und führt sie in das schlecht Unendliche.« (§ 185 Zus.). So ist die Befriedigung möglichst vieler besonderer Bedürfnisse für Hegel kein Wert-an-sich, denn er bedeutet für ihn nicht die Realisierung konkreter Freiheit. Da Freiheit in seinem Sinne nie getrennt von der Gesellschaft, d.h. ihren Sitten, Anschauungen, Überzeugungen existieren kann, muß das Individuum auch in bezug auf seine Bedürfnisse die Möglichkeit haben, sie als Ausdruck der Übereinstimmung von sich und der Gesellschaft, sie als sittlich, zu erfahren. Erst dann hat die Freiheit auch ihren Inhalt, und das Individuum fühlt sich wirklich befriedigt, da seine Handlung nicht nur formelle Freiheit voraussetzt, sondern auch zur Freiheit im Hegelschen Sinne führt.

Es geht Hegel also nicht darum, die Befriedigung der subjektiven Bedürfnisse zu verbieten, bzw. staatlich geplant festzulegen, sondern diese subjektiven Bedürfnisse aufzuheben, sie zu versittlichen. Dies bedeutet einerseits, daß es weiterhin dem Markt überlassen werden muß, die Befriedigung der versittlichten Bedürfnisse zu organisieren - da er dazu am besten geeignet ist -, andererseits muß dem Individuum ein Raum gegeben werden, in dem es die Möglichkeit hat, seine subjektiven Bedürfnisse und Interessen mit der Allgemeinheit zu vermitteln. In diesem Verständnis werden die Marktgesetze als solche nicht beeinflußt, jedoch dienen sie dann nicht mehr der Befriedigung willkürlicher, sondern sittlicher Interessen.

4.2.3 Politische Mitsprache in der bürgerlichen Gesellschaft

Eine ganz andere Problematik des modernen Freiheitsverständnisses betrifft die politische Beteiligung und Mitsprache des Volkes. Wenn wirkliche Freiheit beinhaltet, daß die Entscheidungen der Gemeinschaft von ihren einzelnen Mitgliedern bejaht und mitgetragen werden müssen, muß es innerhalb der modernen Gesellschaften möglich sein, daß sich das Individuum aktiv an der politischen Willensbildung beteiligen kann. Unter Berücksichtigung dieses Aspekts führt allem Anschein nach kein Weg an einer demokratischen Regierungsform und allgemeinen, freien, gleichen und geheimen Wahlen vorbei. Hegel erhebt gegen diese Auffassung jedoch ernste Einwände. Da ihm das Ideal der griechischen Polis vorschwebt, kann er sich kaum mit einer repräsentativen Mehrheitsregierung anfreunden: Zum einen spricht er dem Volke wie den Abgeordneten die Fähigkeit ab, Einsicht in die notwendigen Regierungsangelegenheiten und Staatsgeschäfte zu haben,[21] zum anderen fiele dabei die Gewalt in die Hände einer einzelnen Partei, eines besonderen, zufälligen Interesses.[22]

Hier wie da wendet sich Hegel dezidiert gegen solche individuellen Beteiligungsmöglichkeiten, denn »diese atomistische, abstrakte Ansicht verschwindet schon in der Familie wie in der bürgerlichen Gesellschaft, wo der Einzelne nur als Mitglied eines Allgemeinen zur Erscheinung kommt.« (§ 303 Anm.). In der Tat hat eine repräsentative Demokratie nicht zur Folge, daß der Einzelne an konkreten Entscheidungen beteiligt ist, sondern lediglich bestimmte Parteien, Personen oder Regierungsprogramme bestimmen kann. Für Hegel muß sich dagegen die Delegierung von Interessensvertretern wirklich aus solchen Gruppen ergeben, die aufgrund ihrer eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situierung die gleichen Interessen haben. Als Ausgleich für die fehlende Mitbestimmung bei Wahlen sieht Hegel die Artikulationsmöglichkeiten des Volkes in Form der öffentlichen Meinung.[23] Hegel wendet sich somit gegen die Trennung von Staat und Gesellschaft durch das allgemeine Wahlrecht, indem er feststellt:

Die Vorstellung, welche die in jenen Kreisen schon vorhandenen Gemeinwesen, wo sie ins Politische, d.i. in den Standpunkt der höchsten konkreten Allgemeinheit eintreten, wieder in eine Menge von Individuen auflöst, hält eben damit das bürgerliche und das politische Leben voneinander getrennt und stellt dieses sozusagen in die Luft, da seine Basis nur die abstrakte Einzelheit der Willkür und Meinung, somit das Zufällige, nicht eine an und für sich feste und berechtigte Grundlage sein würde. (§ 303 Anm.).

Wie sich im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte jedoch herausgestellt hat, haben sich die atomistischen und individualistischen Tendenzen durchgesetzt, - ohne daß die von Hegel aufgezeigten Effekte vermieden worden wären. Trotzdem scheinen sich nirgendwo Bestrebungen aufzutun, die das allgemeine Wahlrecht als den Ausdruck formeller Freiheit und Gleichberechtigung aufheben wollen. Ganz im Gegenteil, gerade die Gleichberechtigung im Politischen hatte immer auch die Intention, gesellschaftliche Unterschiede abzubauen und hat daher die Individualisierungs- und Atomisierungstendenzen mitbeschleunigt. Die moderne Gesellschaft ist für Hegel jedoch ein zu komplexes Phänomen, als daß sich der Einzelne mit dieser als Ganzer identifizieren könnte. Das Individuum muß sich daher auf eine bestimmte Sphäre dieser Gesellschaft beschränken, damit es überhaupt in der Lage sein kann, Freiheit als Vermittlung von Besonderheit und Allgemeinheit zu erfahren. Diese Sphären bezeichnet Hegel als die Stände, in denen sich sämtliche gesellschaftlichen und politischen Prozesse bündeln.

4.3 Der Stand als notwendige Differenzierung der Gesellschaft

4.3.1 Der Stand als Ausfaltung des Polis-Ideals

Nach Hegels Verständnis gehört zur Verwirklichung der konkreten Freiheit die Übereinstimmung des Individuums mit den Sitten und Bräuchen seiner Gemeinschaft, eine Vorstellung, die er aus der Auseinandersetzung mit dem Ideal der griechischen Polis gewonnen hatte. In der antiken Polis lebte der Einzelne in unmittelbarer Einheit mit seiner Stadtgesellschaft. Deren Wille war auch seiner und beider Interessen waren deckungsgleich. Dieser Zustand war jedoch in gewisser Hinsicht sehr beschränkt: Zum einen basierte die damalige Gesellschaft ökonomisch auf der Sklaverei, zum anderen hörte die Übereinstimmung an der Stadtmauer auf. Zu Hegels Zeiten hatte die Gesellschaft wesentlich mehr zu leisten, wenn sie diese Form von Freiheit allen ihren Bürgern gewährleisten wollte. Einerseits waren Sklaverei und Leibeigenschaft in den meisten Ländern aufgehoben, andererseits war die moderne Gesellschaft aus überschaubaren Zusammenhängen herausgetreten und zu einer beginnenden Massengesellschaft geworden. Daher mußte Hegel einige Modifikationen vornehmen, um das Polis-Ideal auf die veränderten Zeitumstände übertragen zu können; dabei hatte er insbesondere das Prinzip der Subjektivität zu berücksichtigen (vgl. § 124). Wenn zum Erreichen konkreter Freiheit die Übernahme gesellschaftlicher Werte, d.h. ihrer Rechte und Pflichten gehört, könnte es naheliegen, daß für alle gesellschaftlichen Individuen die gleichen Rechte und Pflichten gelten. Dies ist für Hegel jedoch eine abwegige Vorstellung, da sich die Gesellschaft in eigenständige Bereiche differenzieren muß, um ihren verschiedenen Aufgaben gerecht zu werden. Diese Differenzierung bringt es nun mit sich, daß in den einzelnen Bereichen auch unterschiedliche Normen gelten, die ein Individuum erfüllen muß, um zu diesem zu gehören und darin anerkannt zu werden. Es gibt in Hegels Verständnis keine gesamtgesellschaftliche Norm, die ein Individuum erfüllen könnte; ganz im Gegenteil, die geistigen Voraussetzungen und das Bewußtsein eines Bereichs sind für ihn Ausfaltungen des Begriffs und damit auch Negationen voneinander.

An dieser Stelle soll nicht erörtert werden, wie Hegel das Problem der Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Bereich löst,[24] sondern es erscheint sinnvoll der Frage nachzugehen, ob diese Aufgliederung der Gesellschaft sich mit heutigen Gesellschaftsvorstellungen vereinbaren läßt.

4.3.2 Moderne Gesellschaft zwischen Individualität und Identität

Ohne Zweifel berührt Hegel mit der Frage nach gesellschaftlichen Gleichheitsbestrebungen eines der zentralen Probleme der gegenwärtigen Gesellschaftsphilosophie. Wenn es um z.B. gesetzliche Regelungen ethisch relevanter Probleme geht,[25] wird deutlich, daß in einer Gesellschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, für alle ihre Mitglieder die gleichen Normen festzulegen, besonders in ethischen Fragen ein Konsens schwer zu finden ist. Die ethischen Diskussionen zeigen zumindest deutlich, daß es in der Gesellschaft unterschiedliche Gruppierungen mit ganz unterschiedlichen Wertemustern gibt. Dennoch führen solche politischen und ethischen Überzeugungen nicht in der Weise zu einer Untergliederung der Gesellschaft, daß sie auch verschiedene Rechtsformen ermöglichen könnten.[26] Für das Verständnis von Hegel ist es absurd, wenn zwei Personen mit einem vollkommen verschiedenen Bewußtsein, die sich in der Gesellschaft in gänzlich verschiedenen Sphären bewegen, in gleicher Weise ihre Vermittlung mit der Gesellschaft vollziehen sollen. Jedoch kann es natürlich kein Recht für jede einzelne Person geben, sie muß sich vielmehr nach den Werten ihres Bereiches beurteilen lassen. Um dies zu ermöglichen, sind für Hegel mehrere Bedingungen zu erfüllen: Das Individuum muß sich erkennbar für einen der verschiedenen Gesellschaftsbereiche entscheiden, der ihm durch die Erfüllung seiner Rechte und Pflichten die notwendige Anerkennung zukommen läßt und mit dessen Bewußtsein es sich identifiziert; außerdem müssen die Bereiche auf einer höheren Ebene ihre Vermittlung finden, und zu guter Letzt muß jedes Individuum sich frei zu einem Bereich entscheiden können. Besonders das letztgenannte Kriterium ist ein Kennzeichen der Moderne, da in früheren Epochen die Standeszugehörigkeit durch Geburt oder andere Kriterien bestimmt wurde (§ 206 Anm.). Für Hegel scheint es jedoch kein Problem zu sein, daß eine Person aus einem Bereich der Gesellschaft, der durch ein bestimmtes Bewußtsein, besondere Sitten und Gebräuche determiniert ist, in einen anderen übersiedelt. Da sein Konzept insbesondere auch in der kulturellen und sozialen Differenzierung der Bereiche besteht, würde dies zur Folge haben, daß ein Individuum, d.h. in der Regel ein Jugendlicher, mit dem Eintritt in einen bestimmten Bereich einen Großteil seiner Sozialisation und Inkulturierung ablegen müßte, bzw. in der Lage sein müßte, den angestrebten Bereich richtig einschätzen und annehmen zu können.[27] Ebenfalls müßte es Aufgabe der öffentlichen Erziehung und Bildung sein, die Freiheit der Berufswahl zu fördern, um Kinder und Jugendliche gemäß ihren Fähigkeiten und Interessen den gewünschten Bereich betreten zu lassen.[28] Dies alles hätte zwangsläufig zur Folge, daß sich die unterschiedlichen Sphären aneinander anglichen, so daß früher oder später keine äußeren eindeutigen Merkmale einem bestimmten Bereich mehr zugeordnet werden könnten. Das größte Problem besteht jedoch darin, ob es den Individuen garantiert werden könnte, in den Bereich einzutreten, der ihrem Bewußtsein entspricht, oder ob Angebot und Nachfrage nicht einer bestimmten Diskrepanz unterliegen.

Zusammengenommen kann man sagen, daß sich das Hegelsche Konzept von Ständen, mit eigenen Lebensbereichen und Rechtsformen, in der modernen Gesellschaft nicht durchgesetzt hat. Es zeigt sich zwar, daß es innerhalb der Gesellschaft Bereiche mit stark von einander abweichenden Mentalitäten gibt, die auch Auswirkungen auf den individuellen Lebensstil haben, jedoch gerade nicht nach ihrem eigenen Recht behandelt werden wollen, sondern eher ihre besondere Auffassung auf politischem Wege in der gesamten Gesellschaft durchsetzen wollen. Ebenfalls scheint es kein Moment zu geben - im Vergleich zur Arbeit, - das in der Lage wäre, unterschiedliche Geisteshaltungen so zu fokussieren, daß sich daraus eindeutig identifizierbare Lebenswelten ableiten ließen.[29] Es ist daher ganz selbstverständlich, daß sich die unterschiedlichen Interessen in Parteien organisieren, die mit mehr oder weniger unterschiedlichen Programmen auf bestimmte Gesellschaftsgruppen abzielen, um für einen begrenzten Zeitraum ihre besonderen Interessen durchsetzen zu wollen. Auch darin zeigt sich ein Gegensatz zu Hegels Standesdenken, das gerade verhindern wollte, daß die gesetzgebende Macht durch das allgemeine Wahlrecht in die Hand einer Partei, d.h. eines Bewußtseins, kommt.[30]

Zu guter Letzt scheint es auch zwecklos, die Differenzierung der Gesellschaft nach Marxscher Manier auf die Klassen von Kapitalseignern und Lohnarbeitern zu reduzieren, besonders wenn intendiert wird, diesen Gegensatz als Ausdruck sozialer Ungleichheit prinzipiell aufzuheben.[31] Für Hegel schienen die Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft nicht grundsätzlich auf die Unvereinbarkeit der beiden Faktoren Arbeit und Kapital zurückzuführen zu sein, da er beide in einem Stand zusammenfaßte und durch die Institution der Korporation miteinander vermittelte. An dieser Stelle läßt sich fragen, ob Arbeit und Kapital tatsächlich als Ausdrücke eines Standes betrachtet werden können, oder ob darin nicht Widersprüche enthalten sind, die sich nicht ohne weiteres in bestimmte Organisationsformen aufheben lassen, da sie die Grundlagen des gesamten Systems sprengen würden.

Begriffe wie Arbeitskampf, -markt und -vertrag machen deutlich, daß auch heute dieser Widerspruch sich nur einzeln und immer wieder neu aufheben läßt. Nicht umsonst hat sich Marx als Nachfolger Hegels und dessen Kritiker gerade mit dem Arbeits- und Kapitalbegriff auseinandergesetzt, wobei er auf wichtige Motive zurückgreifen konnte, auf die im folgenden eingegangen werden soll.

4.4 Zur Bedeutung der Arbeit in Hegels Gesellschaftsphilosophie

4.4.1 Arbeit als Ort der Differenzierung der Gesellschaft

Im Kap. 4.3.2 Moderne Gesellschaft zwischen Individualität und Identität tauchte bereits die Frage auf, wie Hegel es erreichen will, daß sich die Gesellschaft in stabile Lebenssphären aufgliedert, die von ihren Mitgliedern frei ausgewählt werden können. Da den verschiedenen Bereichen eine bestimmte Geisteshaltung und Lebensweise zu eigen ist, sieht Hegel die Arbeit als die Möglichkeit an, die Geisteshaltung auszudrücken und die Lebensweise zu garantieren. In diesem Sinne darf es kein Zufall sein, in welchem Bereich der Wirtschaft ein Mensch tätig wird, sondern er sucht sich seine Arbeit entsprechend seinem Bewußtsein und seinem Willen (§ 206). Hegel begnügt sich damit, die Gesellschaft in drei Bereiche, d.h. Stände, einzuteilen, die er aus dem Begriff deduziert (§§ 199f). Das heißt, aus dem Begriff, also der Logik, leitet er die Formen des Bewußtseins ab, die die Tätigkeit des Menschen bestimmen. Es kommt somit darauf an, daß die menschliche Tätigkeit auch seinem Bewußtsein entspricht, so daß Sein und Bewußtsein eine Einheit bilden. Damit dies möglich sein kann, setzt Hegel die Freiheit der Berufswahl voraus, so daß sich jedes Individuum seine besondere Sphäre selbst bestimmen kann (§ 206).

Aus diesen Überlegungen ergibt sich die enge Verbindung von Stand und Arbeit, denn für Hegel sind die Stände Ausdruck von »besonderen Systemen der Bedürfnisse, ihrer Mittel und Arbeiten, der Arten und Weisen der Befriedigung und der theoretischen und praktischen Bildung« (§ 201). So glaubt Hegel die verschiedenen Sektoren der Wirtschaft, die sich aufgrund der Arbeitsteilung ergeben, auf diese Weise durch die unterschiedlichen Formen des Bewußtseins einteilen zu können und sie als Grundlage der Standesdifferenzierung zu nehmen. Bestimmte Tätigkeiten sind daher Ausdruck einer bestimmten Geisteshaltung, und es ist für Hegel nicht wünschenswert, einen Beruf ohne die entsprechende Geisteshaltung auszuüben.

Für den ersten Stand setzt Hegel den Zustand der Unmittelbarkeit, eines gewissen Zutrauens in die Freigebigkeit der Natur und Gottes voraus. Aus diesem Grund kritisiert er, wenn »die Ökonomie auch auf reflektierende Weise, wie eine Fabrik, betrieben (wird) und (...) dann einen ihrer Natürlichkeit widerstrebenden Charakter des zweiten Standes an(nimmt).« (§ 203 Zus.). Das gleiche gilt auch für die anderen Stände, so daß es z.B. schädlich wäre, in den allgemeinen Stand aufgrund eines selbstsüchtigen Strebens nach persönlicher Bereicherung zu treten, ohne eine Bewußtsein für die Belange der Allgemeinheit zu besitzen (vgl. §§ 291-297).[32] Für den zweiten Stand setzt Hegel insbesondere die Gedanken der Freiheit, Unabhängigkeit und des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten voraus, was vor allem einen rechten Verstandesgebrauch erfordert (vgl. §§ 203 Zus., 204).

Eine der wesentlichen Erkenntnisse der Hegelschen Überlegungen besteht nun darin, daß sich Wirtschaftssysteme nicht ohne weiteres von einer Kultur und Mentalität auf die andere übertragen lassen.[33] Ebenfalls wird deutlich, daß durch die Konkurrenz von Wirtschaftssystemen - wobei sich einige erfolgreicher als andere erweisen und damit Krisen produzieren -, auch die dahinterstehenden Denkweisen und politischen Systeme in Frage gestellt werden. Dies zeigt sich z.Zt. besonders deutlich an der Umstellung der Wirtschaft von zentraler Planwirtschaft auf freie Marktwirtschaft in den ehemals sozialistischen Ländern Osteuropas.

Erstaunlicherweise hat Hegel nicht die Problematik analysiert, inwieweit die Aufteilung der Wirtschaftszweige tatsächlich den Bewußtseinsstand der Bevölkerung widerspiegelt. Gerade zu seiner Zeit begannen die großen demographischen und technologischen Umwälzungen, die dazu führten, daß der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft von damals 80% auf heute 3-4% gesunken ist. Dies kann nicht allein eine Frage des Bewußtseinswandels sein, sondern insbesondere im 19. Jahrhundert wurden durch das starke Bevölkerungswachstum und die beginnende Mechanisierung der Landwirtschaft viele Arbeitskräfte frei.[34] Letzten Endes entwickelten sich m.E. daraus die Widersprüche, die stärker waren als im mittelalterlichen Feudalsystem, da sich im letzteren der Grundherr wenigstens bestimmten Pflichten gegenübergestellt sah. Von daher läßt sich Hegels Standpunkt kritisieren, daß in der bürgerlichen Gesellschaft wirklich die Aufteilung der Stände, d.h. die Arbeit und jegliche wirtschaftliche Betätigung, "durch die Willkür vermittelt geschehe", und als abstrakte Freiheit bezeichnet werden kann (§ 206 Anm.). Dies würde voraussetzen, daß es tatsächlich in der Gesellschaft jeder Person möglich wäre, in genau den Stand einzutreten, der ihrem Bewußtsein entspräche, bzw. daß sich das System der Bedürfnisse so gestaltete, daß dies möglich würde.

Es gehört, wie in Kap. 4.1.1 erwähnt, zu den Kerngedanken der Hegelschen Philosophie, daß sich das Selbstbewußtsein des Geistes langsam seinen Weg in der Geschichte bahnt und sich Anerkennung verschafft; ein Prozeß, der Jahrhunderte bis Jahrtausende in Anspruch nehmen kann.[35] Gerade die Dauer dieses Prozesses macht es schwierig, aus einer augenblicklichen Situation bestimmte Entwicklungen zu deuten und voraus zu bestimmen. Für einen Kritiker Hegels wie Karl Marx war die Diskrepanz zwischen Sein und Bewußtsein so groß, daß er deren Beziehung einfach auf den Kopf stellte.[36] Es war und ist in der Tat schwer möglich, eine stupide Fließbandarbeit als vergleichbaren Ausdruck bürgerlicher Freiheiten aufzufassen wie die Gründung und Leitung eines eigenen Unternehmens. Dennoch faßt Hegel beide Arbeiten im Gewerbestand zusammen, obwohl gerade im 19. Jahrhundert eine Vielzahl von Menschen aufgrund wirtschaftlicher Nöte vom Land in die Industriereviere drängte und dort eine standesfremde Arbeit annahm. In diesem Falle konnte die Arbeit sicherlich nicht als Ausdruck eines bestimmten Bewußtseins gesehen werden und führte zu den bekannten Antagonismen.[37]

Überträgt man diese Bedingungen auf die heutige Situation in den westlichen Industrieländern, so läßt sich eher das Gegenteil konstatieren. Die Mehrheit der Jugendlichen hat einen höheren Anspruch an Selbstverwirklichung als sie in der Regel von der Arbeit ermöglicht werden kann, auch wenn es häufig erwartet wird. Obwohl die Zahl der Tätigkeiten, die Kreativität, Engagement - auch in Verbindung mit einer akademischen Ausbildung -, erfordern, sicherlich zugenommen hat, steht die tatsächliche Berufstätigkeit häufig hinter den gesteckten Erwartungen und dem eigenen Bewußtsein von Selbstverwirklichung zurück, so daß sie an Wert verliert und lediglich zu einer Möglichkeit wird, zum Ausdruck der abstrakten Freiheit, dem Geld, zu gelangen. Es wächst daher im selben Maße die Bedeutung der außerberuflichen Aktivitäten, die das eigentliche Leben darstellen. Auch in diesem Falle ist m.E. nicht zu erwarten, daß sich diese Lücke schließen läßt, d.h. die Wirtschaft so viele kreative Arbeitsplätze bietet, daß die Arbeit dem Bewußtsein aller Individuen gerecht wird. Wenn jedoch der Aspekt der Selbstverwirklichung eine zunehmend größere Bedeutung erhält, ist diese Auffassung der eigenen Tätigkeit sicherlich mehr im Sinne Hegels, auch wenn solche Tätigkeiten kaum in der eigentlichen industriellen Produktion zu finden sind.

Eine neue Problematik wird auch in bezug auf das wachsende ökologische Bewußtsein der Bevölkerung sichtbar, da ebenfalls das Angebot an ökologisch orientierten Arbeits- und Lebensbereichen der Nachfrage hinterherhinkt.

Insofern ist es schwierig, Hegels Konzept von der Kongruenz von Arbeits- und Lebenswelten als Ausdruck eines bestimmten Bewußtseins als eine Ist-Bestimmung zu übernehmen, da selbst die formelle Freiheit, seinen eigenen Stand aus Überzeugung zu wählen und darin zu verharren, vielfach nicht gegeben ist.

Aus diesem Grund stößt auch Hegels Konzept von der Bindung der politischen Willensbildung an die Arbeitsbereiche auch hier an seine Grenzen, da sich Personen, die ihre Arbeit getrennt vom eigentlichen Bewußtsein und Leben betrachten, auf diese Weise nicht vertreten fühlen.[38]

Aus den genannten Gründen ist Hegels Vorstellung, die Arbeit als Ort der gesellschaftlichen Differenzierung zu sehen, eine Soll-Bestimmung, die, wenn sie die von Hegel genannten Bedingungen erfüllte, sicherlich eine vernünftige Gliederung der Gesellschaft darstellte. Die Dynamik der modernen Gesellschaften, die auch einen schnellen Wandel der geistigen Strömungen bewirkt, steht diesem statischen Modell entgegen. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen soll nun die Hegelsche Vorstellung, die Arbeit als Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft zu sehen, betrachtet werde.

4.4.2 Arbeit als Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft

Schon wiederholt ist im Laufe dieser Arbeit darauf hingewiesen worden, daß Hegel seine Vorstellung von konkreter Freiheit aus dem Ideal der griechischen Polis abgeleitet und auf die Verhältnisse der modernen bürgerlichen Gesellschaft zu übertragen versucht hatte. Die Verhältnisse innerhalb der Polis stellte er sich dergestalt dar, daß sich der Einzelne für die Interessen seiner Stadt einsetzte, da deren Belange auch den seinen entsprachen, und die Stadt wiederum die Interessen und das Wohl ihrer Bürger verteidigte. Es muß für Hegel daher auch in der modernen Gesellschaft einen Ort geben, wo der Einzelne sich für das Wohl der Gemeinschaft einsetzen kann und andererseits deutlich wird, daß die Gesellschaft das besondere Wohl ihrer Mitglieder intendiert. Bei der Analyse verschiedener Abhandlungen über die Nationalökonomie war Hegel darauf gestoßen, daß aufgrund der wirtschaftlichen Verflechtungen in der modernen Gesellschaft niemand mehr für sich selbst produzierend seine eigenen Bedürfnisse befriedigen könne, sondern jeder, indem er wirtschaftlich tätig wird, für die Bedürfnisse der anderen mitproduziert und von den Produkten der anderen mitversorgt wird. Über die Arbeit und die gegenseitige Vermittlung der Produkte, den Tausch, treten die Einzelnen in soziale Beziehungen. Jedes Individuum ist daher auf die Produktion anderer angewiesen, sowie die Gesellschaft es nötig hat, daß der Einzelne tätig wird. Damit steht fest, daß Arbeit ein gesellschaftlich relevantes Verhalten ist, jedoch nicht, ob dieses Tätigkeit auch dazu dient, Arbeitende und Gesellschaft miteinander zu vermitteln.

Konkret geht es dabei um die Verwirklichung zweier Aspekte: der Subsistenz und der Anerkennung.39 Beide lassen sich nur auf gesellschaftlichem Wege erzielen, da zum einen jeder auf die Produktion der anderen angewiesen ist, zum anderen Anerkennung immer ein Prozeß ist, der zwischen mehreren Personen stattfinden muß.

Für Hegel lassen sich beide Aspekte zunächst dadurch realisieren, indem der Einzelne wirtschaftlich tätig wird, d.h. zu einem möglichst großen allgemeinen Vermögen beiträgt.

Was die Subsistenz betrifft, so ist zur Gewährleistung derselben in vielen Fällen die eigene Geschicklichkeit ausreichend, sei es in Verbindung mit oder ohne Kapital (vgl. § 200). Da aufgrund der Arbeitsteilung und der Handels- und Gewerbefreiheit das allgemeine Vermögen stark zugenommen hat, kann dadurch auch die Subsistenz vieler besser garantiert werden (vgl. § 243).

In bezug auf die Anerkennung ergeben sich jedoch mehr Probleme: Indem jeder für sich aus selbstsüchtigem Zweck produziert, trägt er dadurch zwar zur Steigerung der Produktion bei, jedoch ist die Allgemeinheit, für die er produziert, lediglich die abstrakte des Marktes. Der Markt kann aufgrund seiner Abstraktheit allerdings nicht für die Anerkennung des Einzelnen sorgen. Dies ist nur möglich, wenn der Einzelne auch konkret für das Wohl eines Bereiches tätig ist, also zu einem konkreten Vermögen beiträgt, das die Subsistenz seines Bereiches garantiert. Für Hegel ist auf eine andere Weise keine gesellschaftliche Anerkennung möglich, z.B. durch das Bezeigen von Statussymbolen (§ 256 Anm.).

Anerkennung und Subsistenz hängen daher in der Weise zusammen, daß Arbeit als Subsistenzsicherung nur dann zur Anerkennung führt, wenn sie die Subsistenzsicherung eines konkreten Bereichs auch erkennbar zum Ziel hat. Geschieht dies nicht, besitzt die bürgerliche Gesellschaft für Hegel die Tendenz, daß für einen Teil der Bevölkerung, obwohl er arbeitet, keine ausreichenden Subsistenzmittel zur Verfügung gestellt werden können (vgl. § 243). Dies ist ein eklatanter Bruch mit dem Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeit von Individuum und Gesellschaft: Da der Einsatz des Einzelnen für die Gesellschaft darin besteht, daß er arbeitet, hat er auch einen Anspruch darauf, daß die Gesellschaft dieses Engagement dadurch honoriert, daß es ihm seine Subsistenz sichert. Andernfalls trägt er zum gesellschaftlichen Wohl und Reichtum bei, ohne daß die Gesellschaft ihrer Verpflichtung, auch zum Wohl des Einzelnen beizutragen, nachkommt. Das gegenseitige Vertrauensverhältnis, d.h. die Vermittlung, ist in diesem Falle gestört und der Einzelne empört sich gegen die Gesellschaft, die den vermittelnden Charakter der Arbeit verkennt (vgl. § 241-244).

Werden die beiden Aufgaben der Arbeit, Subsistenz und Anerkennung zu sichern, nicht erfüllt, kann die Arbeit auch nicht als Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft dienen. Aus diesem Grund ist es wichtig, daß die Arbeit auf eine Weise organisiert ist, die Subsistenz und Anerkennung garantieren. Für Hegel ist diese Vermittlung im ersten und dritten Stand von selbst gegeben: im ersten unmittelbar, im dritten durch seinen Zweck (vgl. § 250).

Für den zweiten Stand ist diese Vermittlung jedoch dann nicht gegeben, wenn die einzelnen Mitglieder dieses Standes nicht innerhalb desselben in einer besonderen gemeinschaftlichen Form eingebunden sind. Hegel versteht darunter eine Korporation, d.h. eine Vereinigung, die das Wohl aller Mitglieder als Zweck hat und in der jedes Mitglied durch seine rechtschaffene Arbeit für diese seine Anerkennung und Ehre findet. Die Korporation übernimmt somit für den Einzelnen die Rolle der griechischen Polis. Er setzt sich für sie ein, und sie garantiert ihm im Gegenzug seine Subsistenz und Anerkennung. Sie besitzt eine Konkretion und Übersichtlichkeit, eine Art unsichtbare Stadtmauer, und sorgt auf diese Weise dafür, daß der Einzelne sich nicht atomisiert in der Massengesellschaft verliert.

Im allgemeinen besitzt die Arbeit in der heutigen Zeit nicht prinzipiell die Eigenschaft, Individuum und Gesellschaft konkret miteinander zu vermitteln. Zwar wird anerkannt, daß die Arbeit eine wichtige soziale Integrationskraft besitzt, jedoch geht Hegels Einschätzung in wichtigen Punkten über heutige Verhältnisse hinaus.

Deutlich wird dies z.B. daran, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer scheinbar zwei Gruppen sind, die entgegengesetzte Interessen haben.[40] Wenn Arbeit eine Vermittlungsfunktion ausüben soll, darf sie nicht als reines Mittel zum Zweck gesehen werden, weder von Seiten der Arbeitgeber als reiner Produktionsfaktor, noch seitens der Arbeitnehmer als bloßer Job oder zufällige Beschäftigung.[41] Das heißt, weder Unternehmer- noch Arbeitnehmerarbeit darf rein als selbstsüchtiges Gewinnstreben betrachtet werden, so sie zu sozialer Vermittlung und Anerkennung führen soll. Da für Hegel jedoch nur eine sozial vermittelte Person als frei bezeichnet werden kann, ist eine soziale Auffassung und Sicherung der Arbeit notwendig zur Vermittlung konkreter Freiheit. Der fehlende Vermittlungsgedanke hat daher zur Folge, daß zum einen die Subsistenzsicherung auf eine vertragliche Vereinbarung reduziert und Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen wird, zum anderen das gesellschaftliche Integrationsbedürfnis auf die Privatsphäre verlagert und damit kaum politisch zu vermitteln ist.[42] In Hegels Konzept der Arbeit ist also enthalten, daß der Einzelne darin gesellschaftliche und politische Vermittlung findet, die Sphäre der Arbeit der antiken Polis entspricht. In seinem Verhältnis zum Staat ist der Einzelne daher kein atomisiertes Individuum, sondern Teil eines Bereichs, der durch die Arbeit bestimmt wird.[43] Warum diese Vermittlung durch die Arbeit scheinbar nicht realisiert werden kann, soll im folgenden Kapitel näher untersucht werden.

4.4.3 Der Widerspruch von Arbeit und Kapital

Für viele Denker in der Nachfolge Hegels stellen die Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft, die Hegel bereits treffend beschrieben hat, vor allem den Gegensatz der beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital dar. Insbesondere Karl Marx hat sich damit eingehend auseinandergesetzt und Hegel scharf kritisiert, der für ihn ein Apologet der bürgerlichen Gesellschaft war und ihren sog. Überbau voll legitimierte.[44] Wie im Kap. 3.4.2 Aufgaben und Kompetenzen der Korporation gezeigt wurde, hat Hegel diesen Widerspruch zu lösen versucht, indem er das Vermögen der Korporation als ein Gemeinsames beschrieb. Die Frage, wem der Gewinn eines Unternehmens zukommt, wird auf die Weise beantwortet, daß das Gesamtvermögen der Korporation dem Wohl aller dienen soll (vgl. § 253 und Anm.). Diese Lösung erscheint sehr elegant, setzt jedoch voraus, daß das Vermögen eines Unternehmens nicht mehr als Privatbesitz einer Privatperson allein zur Disposition steht, sondern sozialpflichtig ist. Daß der Privatunternehmer dabei auf seine Gewinne verzichten müßte, ist bei Hegel nicht der Fall, denn es wäre dem Staat bei Bedarf auch möglich, die Gewinne der Unternehmen so zu besteuern, daß die Subsistenz der armen Schichten dadurch garantiert werden könnte (vgl. § 245). Dies ist für ihn jedoch widersinnig, da es notwendig ist, daß der Einzelne durch seine eigene Arbeit seine Subsistenz sichert (ebd.). In diesem Sinne sind staatliche Umverteilungsmaßnahmen zur Subsistenzsicherung in florierenden Industriebetrieben eine höchst problematische Angelegenheit, hinterlassen sie doch bei den Empfängern den Eindruck, daß ihre Arbeit nicht produktiv und effektiv ist. Für Hegel unterscheiden sich durch eine Umverteilungspolitik des Staates die Einkommensverhältnisse wenig von denen eines Korporationssystems, jedoch entspricht letzteres eher dem Subsidiaritätsprinzip und dient mehr der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft.

Andererseits bedurfte es dennoch einer langen Phase der Auseinandersetzung und der Einsicht in die mitunter verhängnisvollen Wirkungen einer ungezügelten Marktwirtschaft, bis z.B. in der Bundesrepublik Deutschland das System einer sozial temperierten Marktwirtschaft installiert wurde, das es zur Aufgabe des Staates macht, Vorsorge gegen Umstände zu treffen, die die Subsistenz der Individuen gefährden könnten.

Daß dies auch auf andere Weise möglich ist, zeigen die verschiedenen Arten der Sozialversicherungen, deren Einnahmen ein gemeinsames Vermögen darstellen, auf dessen Unterstützung der Versicherte im Bedarfsfall einen Anspruch besitzt. Eine ähnliche Konstruktion besitzt auch die Hegelsche Korporation: Der Einzelne stellt seine besondere Geschicklichkeit zur Verfügung und erhält die Sicherung seiner Subsistenz im ganzen Umfang (§ 252 Anm.). Auch diese Subsistenzsicherung setzt ein allgemeines Vermögen voraus, aus dem der Einzelne sein standesgemäßes Auskommen erhält. Natürlich ist diese Art der Solidargemeinschaft um vieles problematischer als die einer Sozialversicherung, welche auf einer relativ unkomplizierten Beitragszahlung basiert.

Für Hegel war der Antagonismus von Ausschweifung und Elend weniger die Folge bestimmter Kapitalverwertungsgesetze oder des Privatbesitzes an Produktionsmitteln, sondern ein Ergebnis falsch verstandener Freiheit und fehlender Aufhebung des selbstsüchtigen Zwecks im Allgemeinen. Das heißt, der Reichtum der einzelnen Gewerbetreibenden ist sozialpflichtig (§ 254 Anm.), weil er erst dann in der Lage ist, dem Individuum Anerkennung zu verschaffen. Dies setzt jedoch bei den Mitgliedern der Korporation das Bewußtsein voraus, daß dies kein Zeichen mildtätigen Handelns, sondern ein Ausdruck vernünftiger, auf der Basis gegenseitiger Rechten und Pflichten beruhender Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft ist. Die Höhe des privaten Vermögens soll daher nicht zur Aufspaltung der Gesellschaft führen, so daß der Einzelne durch zu große Reichtümer oder zu geringes Einkommen von der Allgemeinheit isoliert wird, sondern dem Wohl der Allgemeinheit dienen und allen ein standesgemäßes Einkommen garantieren.

Für Hegel ist daher eine Organisation der Wirtschaft erforderlich, die allen ihren Mitgliedern ihre Subsistenz zu sichern gewillt ist und die nicht darauf bedacht ist, die Löhne der beteiligten Arbeiter als Kostenfaktor möglichst gering zu halten. Das Bewußtsein von der Arbeit als Ort der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft ist jedoch Voraussetzung dafür, daß die Arbeit nicht als Ware betrachtet wird. Arbeit als das gesellschaftliche Engagement der Mehrzahl der Personen hat somit ihren sozialen und politischen Preis, der so hoch ist, daß er den davon abhängigen Familien ein angemessenes Leben in dieser Gesellschaft ermöglichen kann. Das heißt, damit der Einzelne in der Arbeit seinen Beitrag zum Wohl der Allgemeinheit bewußt leistet, muß diese Gemeinschaft auch diese Tätigkeit als solche honorieren. Es kann darum nicht von einem wirklichen Gegensatz von Arbeit und Kapital gesprochen werden, wenn es bei der Zusammenführung beider Produktionsfaktoren darum geht, mit Hilfe der Produktion das Wohl aller am Produktionsprozeß Beteiligten im erwähnten Sinne zu erzielen. Das Kapital selbst wird somit bei Hegel nicht als eine Größe betrachtet, die selbständig nach ihren eigenen Gesetzen des Wirtschaftsgeschehen bestimmt und sich selbst zu vermehren sucht, so daß die Arbeit daneben ihre Bedeutung verliert.

Innerhalb seines eigenen Konzepts läßt sich Hegel dennoch dahingehend befragen, warum er das Zur-Verfügung-Stellen von Kapital nicht in derselben Weise als gesellschaftliches Engagement betrachtete wie das Einbringen seiner Arbeitskraft. Schließlich stellen Konsumverzicht und Einbringen dieses Kapitals ebenfalls einen gesellschaftlichen Dienst dar, der es ermöglicht, die Befriedigung der Bedürfnisse aller zu erreichen. Das heißt, wenn die gesellschaftliche Betätigung des Individuums darin besteht, zur Produktion von Gütern und damit zur Bedürfnisbefriedigung aller beizutragen, dürfte darunter nicht einseitig die Arbeit, sondern müßte auch gleichberechtigt das Zur-Verfügung-Stellen von Kapital gesehen werden.[45] Schließlich ist es auch das Kapital, das zunehmend wichtiger für die Produktion wird, da durch die »Abstraktheit des Produzierens« die Arbeit immer mehr durch Maschinen ersetzt werden kann (§ 198). Auch wenn das Einbringen von Kapital auf dem Kapitalmarkt abstrakter als jedwede Arbeit ist, steht für Hegel auch dahinter eine Person, die auf diese Weise ihre Interessen befriedigen will und auf der anderen Seite in eine konkrete Allgemeinheit eingebunden werden soll. Auch Kapital kann daher ein Mittel sein, um den Kapitalseigner seine Subsistenz und Anerkennung zu sichern.

Zwar wehrte sich Hegel schon dagegen, in diesem Bereich moralische Wertungen vorzunehmen,[46] jedoch läßt sich durch die Anonymität moderner Finanzspekulationen, die lediglich an einer größtmöglichen Rendite interessiert sind, dieses kombinierte Ziel m.E. kaum erreichen.[47] Insofern weder Arbeit noch Kapital von den Aktanten der Wirtschaft in ihren sozialen Dimension begriffen werden, scheinen sie sich als Gegensatz herauszustellen. Im Hegelschen Konzept kann dagegen weder von einem abstrakten Arbeits- noch Kapitalmarkt gesprochen werden.

Die abstrakte Verwertung von Kapital kann daher nie die Funktionen einnehmen, die der Arbeit bei Hegel zukommen, sowohl in individueller wie in gesellschaftlicher Hinsicht. In diesem Sinne stellt der Kapitalbesitz zwar eine Art der Möglichkeiten dar, am allgemeinen Vermögen teilzunehmen, andererseits ist er allein zu abstrakt, um innerhalb der Gesellschaft zu konkreter Freiheit zu führen. Auch ein unbegrenzter Kapitalbesitz kann nur abstrakte Freiheit garantieren, die darin besteht, unbegrenzt konsumieren zu können, jedoch sieht Hegel darin keine Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft gegeben.[48] Ebenfalls problematisch ist es, wenn zugunsten des Produktionsfaktors Kapital versucht wird, den Faktor Arbeit möglichst zu ersetzen. Für Hegel ist die Produktion an sich, d.h. unbegrenztes Wirtschaftswachstum, kein unbedingtes Ziel wirtschaftlichen Handels, da die menschlichen Bedürfnisse ohnehin unbegrenzt sind und somit häufig fragwürdige Formen annehmen (vgl. §§ 191, 195)

Dennoch läßt sich die Kapitalisierung der Wirtschaft, die es ermöglicht, effektiver und qualitativ hochwertiger zu produzieren, aus nationalen und internationalen Wettbewerbsgründen kaum umgehen. Der Faktor Arbeit wird daher immer weiter aus der Produktion verdrängt. Daß es sich die Gesellschaft dennoch auf Dauer nicht leisten kann, ihre Mitglieder nicht gesellschaftlich zu beschäftigen und zu integrieren, haben zahlreiche Erfahrungen im Laufe der Geschichte erwiesen.[49] Wie dies erreicht werden kann und welche Rolle der Staat dabei spielen soll, wird im folgenden betrachtet werden.

4.5 Die Rolle des Staates in der Hegelschen Rechtsphilosophie

4.5.1 Der Staat als Voraussetzung von konkreter Freiheit

Hegel schließt die Grundlinien der Philosophie des Rechts mit seinen Betrachtungen über den Staat ab. Dies entspricht seiner Konzeption, vom Abstraktesten zum Konkretesten hin fortzuschreiten. Wenn das Recht als Dasein des freien Willens verstanden wird, ist für Hegel der Staat folglich der Ort, »in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt« (§ 258). Der Staat ist im wesentlichen die Instanz, die die Differenzierung der Gesellschaft ermöglicht, indem er die bürgerlichen Freiheitsrechte garantiert. Andererseits ist der Staat als allgemeiner Zweck bei Hegel dazu verpflichtet, die widerstrebenden Kräfte der Gesellschaft, gewisse Partikularismen und Egoismen, miteinander zu vermitteln und ein harmonisches Ganzes herbeizuführen. Diese verschiedenen Aufgaben sollen im folgenden detaillierter untersucht werden.

4.5.2 Der Staat als Ausgangspunkt und Zweck der bürgerlichen Gesellschaft

Zu den wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten Aussagen der Hegelschen Rechtsphilosophie gehört sicherlich die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Staat. Für Hegel ist der Staat kein Instrument der bürgerlichen Gesellschaft, sondern deren Zweck und Ausgangspunkt. Hegel setzt es sich zur Aufgabe, zu zeigen, wie Gesellschaft und Staat aufgebaut sein sollen, damit dieses Verhältnis realisiert werden kann.

Eine grundlegender Gedanke besteht dabei darin, daß die Gesellschaft sich grundsätzlich ausdifferenzieren muß, der Staat hingegen Voraussetzung dafür ist, daß diese Differenzierung erfolgen kann. Andererseits ist er auch notwendig, um diese Differenzierung wieder aufzuheben und die verschiedenen Bereiche miteinander zu verbinden. Wenn unter der bürgerlichen Gesellschaft das Nebeneinander der verschiedenen Bereiche verstanden wird, so ist der Staat deren übergeordnetes Allgemeines. Entgegen vieler liberaler Auffassungen ist für Hegel somit ein Staatsverständnis erforderlich, das über das des Not- und Verstandesstaates hinausgeht. Auch in diesem Falle gilt wieder das Prinzip, daß das Allgemeine nicht nur Mittel, sondern auch Zweck sein muß. Der Staat selbst ist »absoluter, unbewegter Selbstzweck«, so daß es für die Einzelnen »höchste Pflicht (...) ist, Mitglieder des Staates zu sein.« (§ 258).

Unter Not- und Verstandesstaat versteht Hegel somit einen Staat, der die Differenzierung der Gesellschaft garantiert - von den Ständen über die Familie zum Individuum.[50] Dies erfolgt dadurch, daß er die Anerkennung der persönlichen Freiheitsrechte, das abstrakte Recht, überwacht und gewährleistet. Der Staat ist in diesem Fall lediglich ein Instrument der Trennung (Entzweiung), jedoch muß er auch genau das Gegenteil davon sein. Wenn die Gesellschaft sich in die verschiedenen Stände untergliedert, muß es auch einen Ort geben, an dem die unterschiedlichen Sphären wieder miteinander vermittelt werden, wo den Einzelnen bewußt wird, daß sie doch ein Ganzes bilden, eine konkrete Allgemeinheit.

Was die Vermittlung des Einzelnen mit der Allgemeinheit betrifft, so erfolgt diese nicht unmittelbar zwischen Individuum und Staat. Diese Vermittlung geschieht über die Institutionen des Staates und der Gesellschaft, so daß die staatlichen Institutionen selbst dazu in der Lage sein müssen, andererseits der Staat Maßnahmen treffen sollte, die gesellschaftliche Vermittlung zu ermöglichen bzw. zu erleichtern.[51]

Der Einzelne ist daher gleichzeitig Mitglied der Gesellschaft (bourgeois) und des Staates (citoyen). Er handelt daher immer unter Berücksichtigung beider Aspekte: Als Mitglied der Gesellschaft liegt die Betonung auf seinen besonderen Interessen, der Befriedigung seiner Bedürfnisse; ebf. kann das Subjekt sich seinen Platz dort selbst bestimmen. Dennoch muß es einen Begriff vom Ganzen geben, der mehr ist als die Summe seiner Teile.

Gerade in bezug auf das Recht wird deutlich, daß die Gesellschaft als Ganze kein "Recht" besitzt: Ihre einzelnen Mitglieder besitzen lediglich die bürgerlichen Freiheitsrechte, wogegen der Staat »das höchste Recht gegen die Einzelnen hat« (§ 258).

Der Hegelsche Staat besitzt somit im Vergleich zur bürgerlichen Gesellschaft ein eigenes Recht, während der Not- und Verstandesstaat sich darauf beschränkt, die Freiheitsrechte der einzelnen Bürger gegeneinander zu garantieren. Jedoch nur dann, wenn eine Gemeinschaft auch ein eigenes Recht besitzt, kann sich das Individuum mit dieser identifizieren und durch innere Zustimmung zu diesem Recht zu konkreter Freiheit gelangen, »denn nur das Gemeinsame existiert in der bürgerlichen Gesellschaft, was gesetzlich konstituiert und anerkannt ist« (§ 253 Anm.).

Für Hegel dient der Staat wie erwähnt nicht dazu, eine nachträgliche Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft zu ermöglichen. Von daher besitzen die einzelnen Bereiche der Gesellschaft ebenfalls ihr begrenztes Eigenrecht (vgl. § 252 und Anm.). Der Staat hingegen besitzt sein Recht gegenüber allen Sphären der Gesellschaft. Dadurch wird er zum »an und für sich allgemeinen Zwecke« (§ 256), in dem das Individuum aufgehen soll.

Die Gesellschaft an sich besitzt keinen Willen, der über die Gewährleistung der formellen Freiheit hinausgeht. Die bürgerliche Gesellschaft will, daß der Einzelne darin die möglichst umfassende Freiheit besitzt, für seinen selbstsüchtigen Zweck sorgen zu können. Dieser Wille ist daher ohne konkreten gemeinsamen Inhalt. Der Staat, insofern er mehr als ein äußerer Staat ist, stellt jedoch einen allgemeinen Willen dar, und erst wenn der Einzelne sich in Übereinstimmung mit diesem weiß, kann man von substantieller Freiheit sprechen (vgl. § 257). Der Staat darf als »Wirklichkeit der sittlichen Idee« nicht willkürlich handeln, sondern muß sich an der Sitte und dem Selbstbewußtsein des Einzelnen orientieren (ebd.).

Entscheidend ist also, »daß sich das Gesetz der Vernunft und der besonderen Freiheit durchdringe und mein besonderer Zweck identisch mit dem Allgemeinen werde, sonst steht der Staat in der Luft.« (§ 265 Zus.). Der Staat will somit in erster Linie das Wohl seiner Bürger, während letztere wissen, daß dies nur durch die Existenz des Staates realisiert werden kann (§ 260).

Trotz dieser gegenseitigen Verschränkung von Allgemeinheit räumt eine derartige Staatsauffassung dem Staat eine große Machtfülle und Gestaltungsmöglichkeit ein, die es sicher zu verankern und zu kontrollieren gilt. Hegel versucht dies durch einen möglichst organischen Staatsaufbau zu erreichen, der nicht einzelnen gesellschaftlichen Gruppen jeweils die Regierungsverantwortung überläßt, sondern auf dem monarchischen und ständischem Prinzip basiert. Hegel war sich der Gefahr bewußt, die eine schwache Demokratie und ein starker Staat beinhalten, da der allgemeine Wille mehr sein muß als eine bloße Mehrheitsentscheidung.[52] Das heißt, je größer die Machtfülle der Regierungsgewalt ist, desto stärker muß deren Kontrolle bzw. zeitl. Beschränkung (in Form ein Abberufungsmöglichkeit) sein. Andererseits besteht gerade durch eine starke Exekutive die Möglichkeit, Kontrollinstanzen zu manipulieren und auszuschalten, so daß z.B. in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund negativer Erfahrungen der Weimarer Republik die Exekutive stark an die Legislative geknüpft ist und ein bestimmter (nahezu) unverfügbarer Rahmen durch die Verfassung vorgegeben ist.

Hegels Vision der Identität von allgemeinem und besonderem Willen läßt sich für ihn somit nicht durch eine Demokratie, also einer mehr oder weniger direkten Einflußmöglichkeit des Einzelnen auf staatliche Entscheidungen, erzielen. Dieser Einfluß ist dem Einzelnen vielmehr nur als bereits gesellschaftlich vermitteltem möglich. Seine Interessen sind dabei klar umschrieben und offensichtlich. Es gibt keine "Volksvertreter", sondern Repräsentanten eines bestimmten Standes. Daß in der Ständeversammlung deutlich die Interessen einer bestimmten Körperschaft vertreten werden, ist selbstverständlich. Aus diesem Grund kann nicht darüber geklagt werden, daß die Wirtschaft Einfluß auf die Politik nimmt. Da durch die Arbeit Individuum und Gemeinschaft miteinander vermittelt sind, ist dies einerseits notwendig, andererseits sind die Interessen einer Korporation bereits versittlicht, da sie das allgemeine Wohl selbst zum Inhalt haben.

Die ständische Gesellschaft geht somit zum einen organisch in den Staat über, zum anderen besitzt sie mit dem Monarchen eine Spitze, die nicht mit einer Gruppe des Staates als besonderer vermittelt ist, sondern in gewissem Sinne alle Elemente der Differenzierung des Begriffs in sich enthält. Das Festhalten Hegels an der Monarchie war zu seiner Zeit sicherlich noch kein Anachronismus, auch wenn die Französische Revolution erste republikanische Ansätze wieder hervorgebracht hatte. Für Hegel war ein aufgeklärter Monarch die Verkörperung des Prinzips der Subjektivität, welche eine Versittlichung der Gesellschaft, d.h. die Aufhebung ihrer Antagonismen, durchsetzen konnte. Dabei ging es Hegel gerade nicht darum, daß der Monarch abgehoben auf seinem Thron sitzt und alle Entscheidungen einsam aus seiner eigenen Machtfülle heraus trifft, sondern daß er lediglich »"Ja" sagt und den Punkt auf das I setzt« (§ 280 Zus.). Das Prinzip der Subjektivität ist somit zu einem Paradoxon gesteigert, das ihm zwar die letzte Entscheidungsgewalt beläßt, andererseits »die Besonderheit des Charakters nicht das Bedeutende ist« (ebd.).

In diesem Sinne besteht die Unmittelbarkeit der Person des Monarchen darin, daß er durch die Geburt zu diesem Amt bestimmt ist, da es kein anderes erfindliches Kriterium gibt, das die Willkürlichkeit dieser Bestimmung zum Ausdruck brächte.

Das Allgemeine sollte selbstverständlich der Inhalt seiner Regierungstätigkeit sein, die durch »das letzte grundlose Selbst des Willens« bestimmt wird (§ 281). Hegel möchte durch diese Vereinigung der Momente der Idee verhindern, daß die Frage der Staatsgewalt zu einem Machtkampf der verschiedenen Faktionen führt (ebd.). Gerade weil die Regierungsgewalt das Prinzip der Subjektivität verkörpert, darf sie nicht einem bestimmten Teil der Gesellschaft zufallen.

An dieser gesamten Konzeption läßt sich kritisch anmerken, ob die Überführung der gesellschaftlichen Kräfte in den Staat dadurch in einer Weise gewährleistet werden kann, daß die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sich im Staat wiederfinden und miteinander vermittelt werden können. Besonders wichtig für Hegel ist die Voraussetzung, daß die Vertreter der Ständeversammlung als Repräsentanten einer bereits mit dem Allgemeinen vermittelten Körperschaft fungieren und die einzelnen Stände in verschiedene Kammern getrennt sind. Letztere Konstruktion ähnelt derjenigen, die den Einfluß der föderativen Elemente auf die Legislative in Form der Trennung von Bundesrat und Bundestag sichern soll und verhindert, daß grundsätzlich widerstrebende Interessen zu einer Macht- bzw. Mehrheitsfrage gerieren. Daß die Hegelsche Konzeption des Zwei-Kammer-Systems heute lediglich einen territorialen Aspekt besitzt, zeigt ein weiteres Mal, daß die gesellschaftliche Ausdifferenzierung politisch nicht institutionalisiert, sondern als Entweder-Oder Frage lösbar erscheint.

Gerade dadurch, daß die Regierungsgewalt zur Verwirklichung partikularer Interessen instrumentalisiert werden kann, ist es für die gesellschaftlichen Einzelinteressen um so wichtiger, die Regierungsgewalt zu besitzen, so daß die Frage um den Machterhalt bzw. -erwerb die eigentliche Sorge um das Wohl der Allgemeinheit zu verdrängen scheint. An dieser Stelle sollte daher der Frage nachgegangen werden, welche Aufgaben dem Staat in der Hegelschen Konzeption überhaupt in bezug auf die Gesellschaft zukommen, d.h. ob in seinem Verständnis auch die Frage der Regierungsgewalt von entscheidender Bedeutung ist.

4.5.3 Wirtschafts- und sozialpolitische Aufgaben des Staates

In der Hegelschen Konzeption ist der Staat nicht der Ort, an dem Individuum und Gesellschaft miteinander vermittelt werden. Zwar ist es erforderlich, daß der Einzelne den Staat bejaht und dessen Recht als sein Recht und mit seinem Zweck als vereint ansieht, dennoch besitzt der Staat nicht die Funktion einer Gemeinschaft, für die sich der Einzelne konkret einsetzt und die sein Wohl konkret garantiert. Diese Art von Gemeinschaft muß der Einzelne in der Gesellschaft selbst finden, d.h. der Staat darf in dieser Beziehung nicht die Rolle der Gesellschaft übernehmen und mit dieser verwechselt werden.[53] Wenn der Staat dennoch wirtschaftliche und soziale Aufgaben innerhalb der Gesellschaft übernimmt, gilt dies nur für die Fälle, in denen die Gesellschaft selbst nicht dazu in der Lage ist - wobei es immer noch zu den Prinzipien des Staates gehört, der Gesellschaft selbst diese Möglichkeiten wieder zu verschaffen und zu garantieren.

Innerhalb eines Systems, wie es auch das Systems der Bedürfnisse letztlich darstellt, ist es nicht so, daß das Wohl des Einzelnen vollkommen von dessen zufälligen Lebensumständen abhängen darf. Dies liegt daran, »daß die Subsistenz und das Wohl des Einzelnen und sein rechtliches Dasein in die Subsistenz, das Wohl und Recht aller verflochten, darauf gegründet und nur in diesem Zusammenhange wirklich und gesichert ist.« (§ 183). Das bedeutet, daß ein auf der Allgemeinheit beruhendes System nur dann funktionieren kann, wenn alle seine Einzelmomente - in diesem Falle auch Einzelpersonen, - ihre Aufgabe erfüllen können. Aus diesem Grund muß die Gesamtheit auch um das Wohl aller ihrer Einzelmomente besorgt sein.

Im Gesamtzusammenhang dieser Bestimmungen lassen sich verschiedene Unterscheidungen treffen: Zum einen hat der Staat dafür zu sorgen, daß das System der Bedürfnisse als Gesamtes funktioniert; zum anderen hat er darauf zu achten, daß jeder Einzelne in dieses System integriert ist. Das heißt, wenn die Vermittlung der Bedürfnisse über den Markt, die Anerkennung und Subsistenzsicherung über die Arbeit erfolgt, muß es primär die Aufgabe des Staates sein, die Gesellschaft darin zu unterstützen, daß alle ihre Mitglieder Zugang zu Markt und Arbeit haben.

Obwohl die Verwirklichung der subjektiven Zwecke des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft auf dem Zugang zur formellen Allgemeinheit des Marktes und der industriellen Arbeit basieren, scheint es dennoch zahlreiche Tendenzen in der Gesellschaft zu geben, die eine staatliche Aufsicht über den Markt und eine Vorsorge vor gewissen Zufälligkeiten der Arbeitstätigkeit erforderlich machen. Konkret bedeutet dies für Hegel zunächst die Schaffung einer Infrastruktur, die den Austausch der Waren ermöglicht, d.h. den Zugang der Produzenten und Konsumenten zum Markt garantiert (§ 235).[54] Weiterhin ist für Hegel eine Art Marktregulierung und Produktkontrolle notwendig, die dafür sorgt, daß Angebot und Nachfrage sich annähernd decken und die angebotenen Waren bestimmten Qualitätsanforderungen genügen. Die Notwendigkeit solcher Steuerungsmaßnahmen wird vielfach bestritten, vor allem wenn sie politisch motiviert sind. Für Hegel stellen sie eher die Ausnahme als die Regel dar, da er sie nur dann anwenden möchte, wenn »das allgemeine Beste in Gefahr kommt« (§ 236 Zus.).

Auch bei temporären bzw. zyklischen Konjunktureinbrüchen sieht Hegel eine Intervention des Staates für erforderlich an, da die dadurch auftretenden Schwankungen für viele Gesellschaftsmitglieder erhebliche Folgen haben können. Hegel attestiert damit den einzelnen gesellschaftlichen Akteuren ein Manko, das darin besteht, daß sie häufig weder Einsicht noch Einfluß auf gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge haben, sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene (§ 236). Die Möglichkeit, sich ganz in seine eigenen Zwecke und Interessen zu vertiefen, bringt es oft mit sich, daß die komplexen Auswirkungen und Bedingungen des eigenen Tuns nicht erkannt, bzw. häufig nicht beeinflußt werden können; die durch die Arbeitsteilung begründete gegenseitige Abhängigkeit tut das ihrige noch hinzu.[55]

Der Staat muß daher nicht nur die abstrakten Freiheitsrechte als wirtschaftliche Rahmenbedingungen garantieren, sondern weitergehende ökonomische Voraussetzungen im Auge behalten, damit Produktion und Konsumtion im System der Bedürfnisse sich in einem harmonischen Gleichgewicht befinden. Hegel versteht darunter jedoch keine planwirtschaftliche Ordnung, sondern die Sorge des Staates um die wirtschaftlichen Aktionsräume, die die besonderen Interessen und Initiativen nicht ersticken, sondern vermitteln und sichern.

Die Auffassungen Hegels in bezug auf die Eingriffsmöglichkeiten des Staates in den Markt lassen sich mutatis mutandis auch auf die Rolle der Arbeit übertragen.

Es muß zunächst Aufgabe der Gesellschaft sein, die Arbeit so zu organisieren, daß sie den Einzelnen ihre Subsistenz und Anerkennung sichert. Für Hegel läßt sich dieses Problem am besten dadurch lösen, daß sich der zweite Stand in Korporationen zusammenschließt. Diese Organisationform ist vernünftig und hebt die Antagonismen der bürgerlichen Gesellschaft zum großen Teil auf. Hegel hält zwar fest, daß es Aufgabe des Staates ist, die Korporationen zu beaufsichtigen (§ 255 Zus.), jedoch äußert er sich an keiner Stelle explizit darüber, wie sie wieder zusammenkommen sollen. Er konstatiert lediglich, daß »man in neueren Zeiten die Korporationen aufgehoben hat« (ebd.). Müßte es daher nicht Aufgabe des Staates sein, sie wieder einzuführen? Wenn Hegel jedoch der Auffassung ist, »was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig« (Vorrede, S. 24), dann geht er m.E. davon aus, daß sich die Korporationen als Endpunkt eines dialektischen Prozesses von selbst bilden werden. Da dies bis in die heutige Zeit nicht geschehen ist, stellt sich die Frage, wie der Staat dazu beitragen kann, daß dem Individuum in der Gesellschaft Subsistenz und Anerkennung gesichert werden und die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft nicht zur Auflösung derselben führen.

Auf die heutigen Umstände übertragen bedeutet dies, daß der Staat zunächst binnengesellschaftliche Lösungen in möglichst großem Umfang akzeptieren und fördern sollte. Auch wenn die gegenwärtige Form der Tarifpartnerschaft in mancherlei Hinsicht zu einer für beide Seiten unbefriedigenden Vermittlung der Interessen führt, sollte von Seiten des Staates vermieden werden, bestehende Kräfteverhältnisse zugunsten einer bestimmten Partei nachhaltig zu verschieben. Natürlich ist die Einschätzung der Arbeit als bloßes Vertragsobjekt sicherlich nicht im Sinne Hegels, jedoch verhindert die gemeinsame Vertretung der Arbeitnehmerinteressen durch die Gewerkschaften wenigstens »die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse« (§ 243). In gewisser Weise findet darin auch eine Versittlichung der Arbeit statt, wenn man bedenkt, daß der einzelne Arbeiter seine besonderen Fähigkeiten in einem allgemeinen Tarifvertrag einbringt. Die Leistung, die der Einzelne erbringt, wird somit zu einem Anteil der Leistung aller und in Relation zu dieser entlohnt. Ob es in bezug auf die Vermittlung von Arbeit und Kapital in absehbarer Zeit eine andere Form der Vermittlung geben wird, ist fraglich, zumindest sollte der Staat nicht zwangsweise eine solche herbeiführen.[56]

Ein problematischer Eingriff in den Arbeitsmarkt wären z.B. Versuche, staatlicherseits die hohe Arbeitslosigkeit nicht durch finanzielle Ausgleichsmaßnahmen abzufangen, sondern anstelle des durch die Arbeit erwirtschafteten Vermögens die Arbeit selbst zu verteilen. Es ist sicherlich nicht der Fall, daß die Mehrzahl der arbeitslosen Bevölkerung aufgrund fehlender Qualifikation nicht vermittelbar ist. Andererseits wird die Schere zwischen arbeitender Bevölkerung mit hohem Einkommen und arbeitslosen oder schlechtbezahlten Gruppen mit geringem Verdienst zunehmend größer. In diesem Zusammenhang gewinnt die Hegelsche Forderung, dem Einzelnen durch seine Arbeit Selbständigkeit und Ehre zu sichern, wieder an Aktualität (vgl. § 245). Gerade die Arbeitslosigkeit bringt es jedoch mit sich, kaum politischen Einfluß zu besitzen, so daß dieses Problem häufig erst durch eine Radikalisierung der betroffenen Gruppen ernstgenommen wird. Dennoch läßt sich ein Recht auf Arbeit innerhalb der Marktwirtschaft kaum verwirklichen, insbesondere nachdem sich die ökonomische Ineffizienz der sozialistischen Staaten gezeigt hat, in denen dieses Recht garantiert wurde. Für Hegel ist beständiges Wirtschaftswachstum und eine ins unendliche gesteigerte Vervielfältigung der Bedürfnisse ohnehin nicht das erklärte Ziel wirtschaftlichen Handelns (vgl. § 191 und Zus.). Natürlich würde auch jeder Wirtschaftspolitiker dies von sich behaupten, obwohl eine einseitige Fixierung auf eine möglichst hohe Steigerung des Sozialproduktes unverkennbar ist.[57] Ob dieses allgemeine Vermögen von allen gemeinsam erbracht worden ist und wiederum allen zugute kommt, wird mit dieser abstrakten Prozentzahl nicht deutlich. Die Frage nach der Realisierung konkreter Freiheit oder anderen immateriellen Werten zu stellen, ist ebenfalls müßig, da solche nicht in Geldbeträgen ausgedrückt werden können. Da jedoch letzten Endes der Staat wieder für solche Leistungen aufkommen muß, die weder der Einzelne noch das Solidarsystem der Sozialversicherung erbringen können, muß der einzelne Steuerzahler schließlich doch einen Einkommensverlust hinnehmen, den er durch den fehlenden Verzicht auf einen Teil seiner Arbeitszeit nicht zu geben bereit war. Da aber Steuererhöhungen noch schwieriger durchzusetzen sind als Kürzungen sozialer Leistungen, wird eher das soziale Netz als die Form der Arbeitsorganisation in Frage gestellt.[58]

Daß die fehlende Bewältigung der sozialen Probleme an ihre Grenze angelangt ist, zeigt der immense Schuldenberg, den Bund, Länder und Gemeinden in den vergangenen Jahren angehäuft haben. Dadurch kommt zum Ausdruck, daß die negativen Folgen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse immer mehr zu Lasten der Allgemeinheit gehen. Der Staat ist bei Hegel nicht dafür zuständig, dauerhaft für die negativen Auswirkungen gesellschaftlichen Handelns aufzukommen. Dies hätte zur Folge, daß staatliche und gesellschaftliche Institutionen sich feindlich gegenüber stünden, was Hegel entschieden verhindern möchte (vgl. § 301 Zus.).

Eine andere Möglichkeit, zu einer Umorganisation der Arbeit zu gelangen, bestünde in der gesellschaftlichen Anerkennung und Bezahlung bislang informeller Haushalts- und Erziehungsarbeit. Da die Anerkennung von Arbeit im wesentlichen durch die Höhe des Lohnes ausgedrückt wird, könnte die gesellschaftliche Sicherung des Vermögens der Familie, wie Hegel sie durch die Korporation erreichen möchte, auf diese Weise erleichtert werden. Zum einen würde dies die Entwicklung von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft auch in diesem Bereich widerspiegeln, zum anderen würde es dem Prinzip gerecht werden, daß soziale Unterstützungen nicht den Eindruck einer willkürlichen Zuwendung erwecken sollen. Damit sollte m.E. nicht eine Renaissance längst überwunden geglaubter Rollenklischees angestrebt, sondern einer gewissen Abhängigkeit von der Erwerbsarbeit entgegengewirkt werden.[59] Daß bei allen solchen Überlegungen die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung aufgehen muß, versteht sich von selbst, jedoch sind bestehende Leistungskriterien vielfach fragwürdig geworden.

Die Schwierigkeiten einer staatlichen Arbeitsmarktpolitik sind somit nicht unbeträchtlich, da die nächstliegende Möglichkeit, daß der Staat selbst großangelegt als Arbeitsbeschaffer auftritt, schon von Hegel als kontraproduktiv angesehen wurde (vgl. § 245). Für ihn ist ein Überangebot an Arbeitskräften ein Zeichen fehlender Konsummöglichkeiten und durch eine Steigerung der Produktion prinzipiell nicht zu lösen. So empfiehlt Hegel pragmatisch den Export von Überproduktion und Überbevölkerung - eine Lösung, die in der heutigen Zeit global nicht mehr weiter ausgeschöpft werden kann.

Wie aus den vorangegangenen Ausführungen deutlich wurde, ist das Problem der Arbeitslosigkeit in den vergangenen beiden Dekaden wieder aktuell und zu einem der drängendsten geworden, nachdem es lange Zeit in der Bundesrepublik Deutschland einen Arbeitskräftemangel gab.

Wenn es aus obengenannten Gründen nicht ohne weiteres möglich ist, einen Teil der Bevölkerung in den Arbeitsprozeß zu integrieren, gehören diese Personen zu diejenigen, die aufgrund fehlenden Einkommens bald verarmen müßten, wenn der Staat nicht mit finanziellen Unterstützungen zur Hand wäre. Daß in der Bundesrepublik Deutschland ein Großteil sozialer Aufwendung durch die Solidargemeinschaft der Versicherten erbracht wird, zeigt die Möglichkeit gesellschaftlich organisierter Unterstützung. Dennoch macht z.B. die hohe Zahl von einer Million Wohnungslosen deutlich, daß selbst ein sehr dichtes soziales Netz grundsätzlich eine soziale Desintegration nicht verhindern kann. Die Existenz eines gut ausgebauten, unpersönlichen sozialen Sicherungssystems kann daher die konkrete Einbindung und Anerkennung des Einzelnen kaum ersetzen.

Diesen Defiziten entgegenzuarbeiten sollte daher Aufgabe des Staates mittels einer geeigneten Familien- und Bildungspolitik sein. Da Familie und Korporation die zwei Momente sind, »um welche sich die Desorganisation der bürgerlichen Gesellschaft dreht« (§ 255 Anm.), sollte der Staat insbesondere die Stabilität der familiären Strukturen fördern. Für Hegel ist es nicht möglich, daß ein Individuum über eine auf der Vernunft basierende Sittlichkeit verfügt, wenn es keine natürliche in der Familie besitzt:

Ihre Erziehung [der Kinder, d.V.] hat die in Rücksicht auf das Familienverhältnis positive Bestimmung, daß die Sittlichkeit in ihnen zur unmittelbaren, noch gegensatzlosen Empfindung gebracht [werde] und das Gemüt darin, als dem Grunde des sittlichen Lebens, in Liebe, Zutrauen und Gehorsam sein erstes Leben gelebt habe, - dann aber die in Rücksicht auf dasselbe Verhältnis negative Bestimmung, die Kinder aus der natürlichen Unmittelbarkeit, in der sie sich ursprünglich befinden, zur Selbständigkeit und freien Persönlichkeit und damit zur Fähigkeit, aus der natürlichen Einheit der Familie zu treten, zu erheben. (§ 175)

Es ist daher Aufgabe von Erziehung und Bildung, die natürliche Sittlichkeit zugrunde zu legen und in eine vernünftige zu überführen (vgl. §§ 187 und Anm., 239 und Zus.). Die Allgemeinheit muß demnach ein Interesse daran besitzen, daß die zukünftigen freien Gesellschaftsmitglieder auf ihre spätere Rolle ausreichend vorbereitet werden. Sie müssen in die Lage versetzt werden, aus stabilen sozialen Verhältnissen und Beziehungen heraus selbst solche eingehen und sichern zu können, sowie sich ihren Platz im Arbeitsprozeß zu suchen und auszufüllen. Da die Familie eine entscheidende Funktion dabei einnimmt, spricht Hegel auch von der besonderen Aufgabe der Korporation, das Vermögen der Familie zu sichern (vgl. § 253). Ebenfalls soll der Gesetzgeber die Ehescheidung »aufs höchste erschweren und das Recht der Sittlichkeit gegen das Belieben aufrechterhalten.« (§ 163 Zus., vgl. § 176).[60] Der Ehescheidung stellt Hegel die »sittliche Auflösung der Familie« gegenüber, die eintritt, wenn die Kinder »in der Volljährigkeit anerkannt werden« und eigene Familien gründen, bzw. als alleinstehende Personen leben (§ 177). Analog zur Arbeit soll auch in diesem Fall der Staat darauf abzielen, durch seine Gesetze das Bestehen familiärer Strukturen zu fördern.[61]

Auch wenn die Aufgaben des Sozialstaates in diesem Sinne verstanden und durchgeführt werden, können immer noch »zufällige, physische und in den äußeren Verhältnissen (§ 200) liegende Umstände« dazu führen, daß Individuen verarmen und auf die Unterstützung der bürgerlichen Gesellschaft angewiesen sind, die in diesem Falle die Rolle der vormodernen Familie übernimmt (§ 241). Diese ultima ratio führt zwar nicht zu Anerkennung und Ehre, verhindert für Hegel aber »Arbeitsscheu« und »Bösartigkeit« der Betroffenen (ebd.). Wenn diese Personen auch nicht selbst zum allgemeinen Vermögen und damit ihrer eigenen Subsistenz beitragen können oder dürfen - worunter m.E. auch Arbeitslosigkeit zählt -, darf die Gesellschaft ihrerseits nicht diesen Individuen ihre Vorteile vorenthalten (ebd.). Dieser Zustand ist zwar alles andere als wünschenswert, aber es hat ihn immer gegeben und wird ihn immer geben, und die Gesellschaft muß bewußt, und nicht zufällig, für solche Fälle aufkommen (§ 242). Das heißt, Subsistenz und Anerkennung werden durch soziale Unterstützungen zwar nicht im selben Maße ermöglicht wie durch eigene Arbeit, aber zumindest dürfen die besonderen Umstände nicht dazu führen, daß die davon betroffenen Individuen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden.

Wie aus den gesamten Ausführungen hervorgeht, ist für Hegel das Prinzip eines Sozialstaates in der bürgerlichen Gesellschaft fundamental mitenthalten, da das im Ökonomischen auf der Allgemeinheit beruhende System das Wohl der Allgemeinheit auch als besonderes Wohl des Einzelnen realisieren soll, so daß es »als Recht behandelt und verwirklicht sei.« (§ 230).

Schlußbemerkungen

Im Verlaufe der vorliegenden Arbeit ist es hoffentlich gelungen, die wesentlichen Elemente der Hegelschen Rechtsphilosophie, wie sie in den Grundlinien der Philosophie des Rechts zum Ausdruck kommen, in ihrer Relevanz bezüglich der heutigen gesellschaftlichen Problemfelder darzustellen. Es hat sich dabei gezeigt, daß Hegel sich schon zu Beginn der Epoche der modernen Industriegesellschaft über deren Antagonismen bewußt war, wie sie im weiteren Verlauf der Geschichte auch auftraten und immer noch existieren.[62] Wenn sich also die Hegelsche Gesellschaftsanalyse als Ausdruck und Ergebnis geistesgeschichtlicher Entwicklungen im wesentlichen als zutreffend herausgestellt hat, müßten auch seine Lösungsansätze eine besondere Beachtung verdient haben. Jeder Bauer weiß jedoch, daß eine zutreffende Analyse seines Bodens alleine noch keine gute Ernte bedeutet, er muß auch wissen, was seine Pflanzen an Nährstoffen und Umweltbedingungen brauchen und wie er diese ihnen zuführen kann. Auch unter diesem Gesichtspunkt kommt Hegel sicherlich das Verdienst zu, bei der Bestimmung der menschlichen Existenz sich nicht einseitig auf Individual- oder Gemeinschaftsinteressen festgelegt zu haben. Einerseits ist der Mensch für ihn das seit Aristoteles so verstandene "politische Wesen",[63] andererseits geht er nicht hinter die in der Aufklärung erkämpften bürgerlichen Freiheitsrechte zurück. Daß zwischen beiden Elementen eine Spannung besteht, die jedoch aufgehoben bzw. vermittelt und nicht zugunsten eines Momentes entschieden werden darf, haben das Scheitern vieler derartiger Versuche gezeigt.

Obwohl Hegel daher sowohl in der Analyse der Gesellschaft als auch in der Bestimmung des Menschen entscheidende Ansätze geliefert hat, müssen dessen Lösungsvorschläge aus diesem Grunde noch nicht wortgetreu realisiert werden.

Daß dies nicht ohne weiteres möglich ist, liegt vor allem daran, daß sich bei Hegel die einzelnen Elemente der Gesellschaft und des Staates zu einem harmonischen Ganzen, einem zusammenhängenden System zusammenfügen, in dem jeder Teil seine besondere Funktion besitzt und eins auf das andere aufbaut. Aus diesem Grund hat es wenig Sinn, einzelne Elemente aus ihrem Zusammenhang getrennt heraus zu realisieren und damit zu glauben, Hegelsche Ideen zu rezipieren.

Andererseits müssen bestimmte Entwicklungen der Moderne, wie Parteiendemokratie, Parlamentarismus, republikanische Staatsformen, nicht rückgängig gemacht werden, um Hegelsche Vorstellungen in die Gestaltung der Gesellschaft neu einfließen zu lassen. Es sollte bei einer Rezeption Hegels daher vor allem gefragt werden, welche Idee oder welcher Geist hinter den jeweiligen gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen offenbar wird. Das heißt, auch wenn die einzelnen Elemente in ihrer Gesamtheit als komplettes System nicht mehr zu verwirklichen sind, sollten die Einzelbestimmungen dennoch nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben.

In bezug auf die Arbeit heißt dies z.B., daß eine Auffassung von Arbeit als bloßem Vertrag und Kostenfaktor, der stets wegrationalisiert werden kann, den Dimensionen von Arbeit als individueller Selbstverwirklichung und gesellschaftlicher Vermittlungsweise nicht gerecht wird. Wie diese Aspekte konkret realisiert werden können, ob in einer Korporation oder mittels Tarifpartnerschaft, ist nicht das Entscheidende. Wichtig dagegen ist die Bestimmung, daß das gesellschaftliche Vermögen von allen erbracht werden und allen zugute kommen soll. Schließlich sollte auch bedacht werden, inwieweit die integrative Leistung, die die Arbeit bei Hegel erfüllt, auf eine andere Weise gewährleistet werden kann, wenn die Arbeit in der heutigen Zeit nicht dazu in der Lage ist.

Was die Hegelsche Auffassung über die Differenzierung der Gesellschaft betrifft, so scheint die organische Entsprechung von gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen einem System von Parteien und Interessensverbänden Platz gemacht zu haben, das jeweils nur einzelnen Gruppen per Mehrheitsentscheid den Regierungsauftrag für die gesamte Gesellschaft erteilen kann. Hegel möchte dagegen weder die Gesellschaft atomisieren, noch alle Unterschiede einebnen. Für ihn ist es erforderlich, daß sich die einzelnen Bereiche bilden und artikulieren können, ihre Interessen respektiert werden und sie vom Staat in der entsprechenden Weise behandelt werden.

Betrachtet man die besondere Bedeutung, die Hegel der Familie und der Korporation als den sittlichen Elementen der bürgerlichen Gesellschaft beimißt, so läßt sich feststellen, daß sowohl die Situation der Familie unter Druck geraten ist, wie auch die Arbeit nicht in Form der Korporation organisiert ist. Daß bei Hegel beide Elemente aufs engste miteinander verknüpft sind, macht die Wichtigkeit einer sicheren ökonomischen und sozialen Verankerung der Familie deutlich und scheint die heutige Erfahrung vorwegzunehmen, daß eine Isolierung der Familie diese schnell überfordern kann, bzw. daß natürliche und vernünftige Sittlichkeit aufeinander angewiesen sind.

Was das Verhältnis von Staat und Gesellschaft betrifft, so besteht auch zwischen diesen beiden Elementen eine Spannung von zuviel und zu wenig Staat. Hegel spricht zwar dem Staat ein breites Spektrum von Aufgaben und Kompetenzen zu, jedoch legt er auch besonderen Wert darauf, daß Gesellschaft und Staat harmonisch ineinander übergehen. Weder die individuelle Freiheit noch die Tätigkeit des Staates werden dabei absolut gesetzt, sondern durch das staatliche Recht soll versucht werden, die Verwirklichung der Privatinteressen zu garantieren und zum Wohle der Allgemeinheit zu gestalten. Der Staat soll daher weder reines Instrument der Trennung, noch ein alles gängelnder und ausgleichender Verwaltungsapparat sein. Er muß zwar von seinen Bürgern gewollt werden, darf aber daraus nicht eine Legitimation ableiten, ein alles verschlingender Moloch sein zu dürfen.

Hegel erkennt und anerkennt somit die in der bürgerlichen Gesellschaft vorhandenen Gegensätze und versucht sie auf vernünftige Weise aufzuheben, so daß weder ein Moment sich beständig durchsetzt, noch beide sich in einem permanenten Kampf verschleißen. Daß die harmonische Aufhebung der Gegensätze der Gesellschaft ihre Dynamik nähme, setzt Hegel nicht voraus, eher befürchtet er, daß es ohne diese Aufhebung zur Zerstörung der Gesellschaft kommt.

Auch in Zukunft wird sich die Ausgestaltung der gesellschaftlichen Antagonismen weiterentwickeln, werden bürgerliche Freiheitsrechte und soziale Anspruchsrechte sich in einem Gegensatz befinden und austariert werden müssen. Den Zustand konkreter Freiheit zu erreichen, also die Zustimmung des Einzelnen zur gesellschaftlichen Ordnung und Übereinstimmung mit dem staatlichen Recht, wird immer eine schwer zu verwirklichende Aufgabe aller an der Mitgestaltung der Gesellschaft beteiligten Gruppen sein. Daß dieses Ziel als ein solches überhaupt erfaßt wird, wäre schon ein erster Schritt auf dem Weg zu dessen Realisierung.

Literaturnachweise

HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: "Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse : mit Hegels eigenhändigen Notizen und mündlichen Zusätzen", in: Werke in 20 Bänden, Band 7. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu editierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 31993

Ders.: "Phänomenologie des Geistes", in: Werke in 20 Bänden, Band 3. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu editierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 41993

Ders.: "Jenaer Systementwürfe : Naturphilosophie und Philosophie des Geistes", in: Jenaer Systementwürfe. Band III. Neu herausgegeben von Rolf-Peter Horstmann. Hamburg 1987

Ders.: Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831 : Edition und Kommentar in sechs Bänden von Karl-Heinz Ilting. Stuttgart 1973f

MARX, Karl; ENGELS, Friedrich: Werke. Berlin 1969

Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter. Basel/Stuttgart 1971ff

Hegel-Jahrbuch 1984-85, begr. von Wilhelm Raimund Beyer, hrsg. von Heinz Kimmerle, Wolfgang Lefèvre, Rudolf W. Meyer. Bochum 1988

Hegel-Jahrbuch 86, begr. von Wilhelm Raimund Beyer, hrsg. von Heinz Kimmerle, Wolfgang Lefèvre, Rudolf W. Meyer. Bochum 1988

HENRICH, Dieter; HARTMANN, Rolf Peter (Hg.): "Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik", in: Veröffentlichungen der Internationalen Hegelvereinigung. Band 11. Stuttgart 1982

LUHMANN, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 41991 SCHULZE, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M. 21992

TAYLOR, Charles: Hegel. Frankfurt a.M. 1983


[1] Alle Paragraphen- und Seitenangaben im Text beziehen sich auf: HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: "Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse : mit Hegels eigenhändigen Notizen und mündlichen Zusätzen", in: Werke in 20 Bänden, Band 7. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu editierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 31993.

Befinden sich innerhalb eines Satzes Zitate ohne Paragraphenangabe, beziehen sie sich jeweils auf die nachfolgende Angabe.

[2] Im Rahmen dieser Arbeit kann nicht auf das gesamte Hegelsche System Bezug genommen werden, wie z.B. auf das Verhältnis von subjektivem, objektivem und absoluten Geist. Der Ausfaltung des Begriffs liegt die Hegelsche Logik zugrunde, auf die hier nur hingewiesen werden kann. Lediglich andere Werke seiner Realphilosophie sollen zur näheren Erläuterung herangezogen werden.

[3] Vgl.: HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: "Jenaer Systementwürfe : Naturphilosophie und Philosophie des Geistes", in: Jenaer Systementwürfe. Band III. Neu herausgegeben von Rolf-Peter Horstmann. Hamburg 1987, S. 198-204

[4] Die Abhängigkeit der Menschen wird auf diese Weise beständig größer und die Gefahr des Verlustes einer einfachen und abstrakten Arbeit wächst im selben Maße.

5 Seit der frühen Neuzeit konnte sich getreu der Devise "Stadtluft macht frei" in den aufstrebenden Handelsstädten ein Bildungs- und Besitzbürgertum entwickeln, was allmählich zur Auflösung der feudalen Ordnung führte.

[6] Vgl. Kap. 4.3.2 Moderne Gesellschaft zwischen Individualität und Identität

[7] Mit der Polizei geht die bürgerliche Gesellschaft somit in der Weise über den "äußeren" Staat hinaus, wie sie das besondere Wohl als Recht behandelt.

[8] Aus diesem Grunde besitzen die meisten der im Grundgesetz garantierten Rechte eine Einschränkung.

[9] Diese Feststellung ist tagtäglich zu beobachten, wenn es darum geht, innerhalb der Gesellschaft Regelungen und Grenzwerte festzulegen, die diese Gesellschaft als zumutbar akzeptieren kann.

[10] Ein Slogan wie "Freie Fahrt für freie Bürger" macht deutlich, wie empfindlich manche Personen auf eine bestimmte, durchaus vernünftige Einschränkung reagieren können, selbst wenn sie im selben Umfeld hunderter anderer, zum Teil nicht einmal bekannter Regelungen unterworfen sind.

[11] An dieser Stelle geht Hegel nicht darauf ein, daß es eigentlich Aufgabe der Gesellschaft wäre, die Kinder auf das Eintreten in einen bestimmten Stand vorzubereiten. Die Erziehung muß daher so allgemein sein, daß sie keinem besonderen Stand entspricht, da auf diese Weise eine starke Einschränkung der Freiheit der Berufswahl verbunden wäre. Andererseits ist das Kind ständig mit der Lebensweise des Standes seiner Eltern verbunden, so daß sich schon hier die Frage stellt, wie Hegel dieses Problem zu lösen gedenkt.

[12] Durch diese Maßnahme wird die Soziale Frage als Widerspruch des kapitalistischen Systems scheinbar mitexportiert.

[13] Die systematische Kolonisation erstreckte sich im vergangenen Jahrhundert vor allem auf Afrika und Asien und war Teil der imperialistischen Machtpolitik der europäischen Großmächte und der USA, wogegen der größte Teil der Auswanderungswelle in die schon bestehenden Staaten Nord- und Südamerikas schwappte.

[14] Vgl. § 185, Kap. 3.3.5 Die Dialektik der modernen Industriegesellschaft

[15] Vgl. Kap. 3.2.6 Die Aufteilung der verschiedenen Stände in bezug auf die Ausführungen über den ersten Stand.

[16] Vgl.: HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: "Phänomenologie des Geistes", in: Werke in 20 Bänden, Band 3. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu editierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 41993, S. 137-155

[17] Vgl. die anschauliche Darstellung der Hegelschen Gesellschaftsphilosophie in: TAYLOR, Charles: Hegel. Frankfurt a.M. 1983, S. 177-293 (zur Phänomenologie), S. 477-604 (zu Geschichte und Politik)

[18] Vgl. Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts.

[19] Vgl. Kap. 1.2.3 Die Sittlichkeit

[20] Hegel wandte sich an verschiedenen Stellen der Rechtsphilosophie gegen das Gleichheitsprinzip, das er als Folge rousseauschen Denkens abstempelte, so in § 5 Anm., § 258 Anm.

[21] »Die Vorstellung (...) ist vornehmlich etwa, daß die Abgeordneten aus dem Volk oder gar das Volk am besten verstehen müsse, was zu seinem Besten diene, und daß es den ungezweifelt besten Willen für dieses Beste habe. Was das erstere betrifft, so ist vielmehr der Fall, daß das Volk, insofern mit diesem Worte ein besonderer Teil der Mitglieder eines Staates bezeichnet ist, den Teil ausdrückt, der nicht weiß, was er will. Zu wissen, was man will, und noch mehr, was der an und für sich seiende Wille, die Vernunft, will, ist die Frucht tiefer Erkenntnis und Einsicht, welche eben nicht die Sache des Volkes ist.« (§ 301 Anm.).

[22] »Von dem Wählen durch die vielen Einzelnen kann noch bemerkt werden, daß notwendig besonders in großen Staaten die Gleichgültigkeit gegen das Geben seiner Stimme, als die in einer Menge eine unbedeutende Wirkung hat, eintritt und die Stimmberechtigten - diese Berechtigung mag ihnen als etwas noch so Hohes angeschlagen und vorgestellt werden - eben zum Stimmgeben nicht erscheinen; - so daß aus solcher Institution vielmehr das Gegenteil ihrer Bestimmung erfolgt und die Wahl in die Gewalt Weniger, einer Partei, somit des besonderen, zufälligen Interesses fällt, die gerade neutralisiert werden sollte.« (§ 311 Anm.).

[23] »In der öffentlichen Meinung (s. § 316) aber ist jedem der Weg offen, auch sein subjektives Meinen über das Allgemeine zu äußern und geltend zu machen.« (§ 308 Anm.).

[24] siehe Kap. 4.4.1 Arbeit als Ort der Differenzierung der Gesellschaft

[25] Als Beispiele seien die Endlosdiskussionen um den § 218, die Atomenergie, neuerdings die Gentechnik, genannt.

[26] Bei der sog. sozialen Indikation im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs lag gewissermaßen eine gesellschaftlich begründete Aufspaltung des Rechts vor, da die Strafbarkeit einer Handlung prinzipiell in Abhängigkeit von der sozialen Situation gesehen wurde. Dennoch widerspricht diese Regelung eigentlich dem Rechtsempfinden der Gesellschaft, obwohl jedwede rechtliche Regelung des Schwangerschaftsabbruches nur als schlechter Kompromiß empfunden wird.

[27] Auch praktische Erwägungen, wie erforderlicher Landbesitz als Voraussetzung für das Eintreten in den ersten Stand, können gegen Hegels Konzept eingewandt werden, obwohl gerade der relativ problemlose Zugang zum Kapitalmarkt die soziale Mobilität begünstigt hat.

[28] In gewisser Hinsicht besteht mit der Diskussion über das Für-und-Wider des dreigliedrigen Schulsystems eine Illustration des Problems der Differenzierung.

[29] In der Soziologie gibt es Ansätze, die unterschiedliche Gesellschaftsschichten anhand ihres Freizeitverhaltens und Mediengebrauchs zu klassifizieren, vgl.: SCHULZE, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M. 21992

[30] Hegel befürwortet daher auch ein Zwei-Kammer-System (§ 312).

[31] An mehreren Stellen wandte sich Hegel entschieden gegen solche Forderungen (vgl. § 46 Anm., § 49 Anm., § 200).

[32] Natürlich haben auch die Staatsdiener ein Privatinteresse an einem bestimmten Einkommen, für das der Staat aufkommen muß (vgl. § 205).

[33] Natürlich sind Hegels Ausführungen in dieser Beziehung nicht mit denen Max Webers vergleichbar. Hegel führt jedoch zahlreiche Beispiele an, die seine Auffassung von der Situation außereuropäischer Völker darstellen. Seine diesbezügliche Einstellung kommt in der folgenden abfälligen Bemerkung zum Ausdruck: »Der Barbar ist faul und unterscheidet sich vom Gebildeten dadurch, daß er in Stumpfheit vor sich hin brütet.« (§ 197 Zus.).

[34] Die sog. "industrielle Reservearmee".

[35] »Es ist wohl an die anderthalbtausend Jahre, daß die Freiheit der Person durch das Christentum zu erblühen angefangen hat und unter einem übrigens kleinen Teile des Menschengeschlechts allgemeines Prinzip geworden ist. Die Freiheit des Eigentums aber ist seit gestern, kann man sagen, hier und da als Prinzip anerkannt worden. - Ein Beispiel aus der Weltgeschichte über die Länge der Zeit, die der Geist braucht, in seinem Selbstbewußtsein fortzuschreiten - und gegen die Ungeduld des Meinens.« (§ 62 Anm.).

[36] »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.« MARX, Karl: "Zur Kritik der politischen Ökonomie. Vorwort", in: MARX, Karl; ENGELS, Friedrich: Werke. Band 13. Berlin 1969, S. 9

»Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keinster Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.« MARX, Karl: "Das Kapital. Band I", in: MARX, Karl; ENGELS, Friedrich: Werke. Band 23. Berlin 1969, S. 27

[37] Es dauerte daher ziemlich lange, bis die Arbeiterschaft das Bewußtsein erlangt hatte, für die eigenen Rechte kämpfen zu müssen und nicht in der Abhängigkeit zu verharren. Charakteristisch dabei war m.E. der Anspruch vieler Intellektuellen, die Bedürfnisse der Arbeiter zu kennen und durchsetzen zu wollen, selbst gegen deren Widerstand.

[38] Das könnte z.B. dazu führen, daß eine ökologisch eingestellte Person, die aus rein ökonomischen Gründen in einer Automobilfabrik oder einem Chemieunternehmen arbeiten muß, über diese Arbeit entgegen ihrer Überzeugung auch politisch vertreten wird. Natürlich läßt Hegel immer die Hintertür der öffentlichen Meinung offen, aber hier ist die Trennung von Gesellschaft und Politik dem Einzelnen von Vorteil.

39 Die deutsche Sprache reflektiert diese zweifache Bedeutung: Der Verdienst entspricht dem Einkommen, das Verdienst bezeichnet eine besondere Anerkennung.

[40] Vgl. Kap. 4.4.3 Der Widerspruch von Arbeit und Kapital

[41] Dies bedeutet kein bedingungslosen Sich-Aufgeben, da für Hegel die Person sich immer einen eigenen Freiheitsraum bewahren muß (vgl. § 66 und Anm.).

[42] Die Mitgliedschaft in einem Fußball- oder Kaninchenzüchterverein kann zwar bestimmte Gemeinschaftsbedürfnisse befriedigen, jedoch nicht das Individuum umfassend integrieren. Religion und Kultur können ebenfalls einen eminent integrativen Charakter besitzen. Des weiteren bietet eine fehlende gesellschaftliche Vermittlung einen Nährboden für politische Ideologien.

[43] Vgl. Kap. 4.5.2 Der Staat als Ausgangspunkt und Zweck der bürgerlichen Gesellschaft

[44] Vgl.: MARX, Karl: "Kritik des Hegelschen Staatsrechts", in: MARX, Karl; ENGELS, Friedrich: Werke. Band 1. Berlin 1970 S. 203-333; ders.: "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung", ebd. S. 378-391. Marx hat sich jedoch erst später mit der politischen Ökonomie auseinandergesetzt.

[45] Gerade zahlreiche Entwicklungsländer leiden aufgrund instabiler Währungsverhältnisse erheblich darunter, daß das einheimische Kapital ins Ausland abfließt; ein gewiß unsoziales Verhalten der Kapitalbesitzer, da es die Volkswirtschaft ruiniert.

[46] »Wie es einerseits das Versöhnende ist, in dieser Sphäre der Bedürfnisse dies in der Sache liegende und sich bestätigende Scheinen der Vernünftigkeit zu erkennen, so ist umgekehrt dies das Feld, wo der Verstand der subjektiven Zwecke und moralischen Meinungen seine Unzufriedenheit und Verdrießlichkeit ausläßt.« (§ 189 Anm.).

[47] Zahlreiche Unternehmen benutzen ihr Eigenkapital zu Devisenspekulationen. Das Unternehmen Siemens erzielte im vergangenen Jahr zwei Drittel seines Gewinnes auf diese Weise. Die eigentliche Produktion wird scheinbar überflüssig, bei Verlustgeschäften im Devisenhandel sogar ernsthaft gefährdet, z.B. bei der Volkswagen AG, der Frankfurter Metallgesellschaft.

[48] »Diese Befreiung ist formell, indem die Besonderheit der Zwecke der zugrunde liegende Inhalt bleibt.« (§ 195)

[49] Die hohe Arbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 hat in nicht unbeträchtlichem Maße zum Aufstieg der Nationalsozialisten in der Weimarer Republik beigetragen.

[50] Eine Weiterführung der Idee der Differenzierung stellt die sog. Systemtheorie dar, vgl.: LUHMANN, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M. 41991

[51] Vgl. Kap. 4.5.3 Die Aufgaben des Staates in Wirtschafts- und Sozialpolitik

[52] Wie die Geschichte gezeigt hat, haben sich gerade solche Ideologien des Staates bedient, die sich aufgrund ihrer Methoden und Auffassungen ohne Instrumentalisierung des Staates nicht ohne weiteres hätten durchsetzen können.

[53] Eine Ausschaltung der Gesellschaft, also deren Verstaatlichung, geschieht daher oft in Staaten, in denen die Integration großer oder energischer Bevölkerungsgruppen nicht gewährleistet ist. Als integratives Element, das dann für alle gesellschaftlichen Sphären gelten soll, dienen häufig Nationalismen oder Ideologien.

[54] Hegel dachte sicher nicht daran, daß - wie die Verkehrsproblematik zeigt -, die öffentliche Macht einmal mit der Verwaltung des Wohlstandes überfordert sein würde. Betrachtet man den Besitz eines privaten Kraftfahrzeugs als Ausdruck von Wohlstand und die damit verbundene Mobilität als Zeichen abstrakter Freiheit, so wird deutlich, daß diese Form von Wohlstand und Freiheit an ihren Grenzen angelangt sind. Daß jedoch ein wesentlicher Teil der Wirtschaft auf dem Kraftfahrzeug basiert, zeigt die gegenseitige Verschränkung von abstrakter Freiheit und Marktwirtschaft - das System reproduziert sich selbst.

[55] Am Beispiel das japanischen Industrieministeriums MITI wird deutlich, wie die staatliche Festlegung von Import- und Exportkontingenten der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Industrie dienen kann. Ein solches Steuerungsinstrument kann jedoch kein Patentrezept sein, da die Abhängigkeit der Industrie von einer kompetenten Verwaltung in diesem Falle nicht unerheblich ist, und eine Fehllenkung und Fehleinschätzung der Wirtschaft beträchtliche negative Folgen haben könnte.

Wenn Hegel zu seiner Zeit eher an eine Sicherung von Rohstoffen und Absatzmärkten dachte, könnte man ihn m.E. als Verfechter einer imperialistischen Handelspolitik sehen.

[56] Eingriffe in die Tarifautonomie werden prinzipiell von beiden Tarifpartnern abgelehnt. Das Instrument der konzertierten Aktion hat sich nicht als besonders effektiv erwiesen, obwohl Stimmen nach einem Runden Tisch in neuester Zeit wieder aufgekommen sind.

[57] Staatliche Wirtschaftspolitik befindet sich immer im Spannungsfeld des Magischen Vierecks, bzw. Fünfecks (unter Einbeziehung des Umweltschutzes). Dennoch wird die Steigerung des Wirtschaftswachstums mit wesentlich größerer Anstrengung betrieben als die Senkung der Arbeitslosenzahlen.

[58] Auch in diesem Falle zeigt sich wieder der Gegensatz von Arbeit und Kapital, da die Aufteilung von Arbeitsleistung auf eine größere Zahl von Personen einseitig Einkommensverluste der Arbeitnehmer zur Folge hätte. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich kann jedoch ebenfalls keinen Effekt auf den Arbeitsmarkt zu haben, da sie zu weiteren Rationalisierungsmaßnahmen führt.

[59] Die Stellung der Frau in der Gesellschaft hat sich seit Hegel fundamental gewandelt. Den Forderungen nach Gleichberechtigung stehen in vielen Bereichen noch Benachteiligungen gegenüber. Frauenarbeitslosigkeit und eine zunehmende Anzahl alleinerziehender Haushalte gehören ebenfalls zu den aktuellen gesellschaftlichen Problemen, deren Lösung noch offensteht.

[60] Die Ehe ist bei Hegel nur an sich unauflöslich und kann daher geschieden werden (§ 163 Zus.). Hegel begründet dies seltsamerweise mit einem Hinweis auf das jesuanische Scheidungsverbot bei Mt 19, 8 und Mk 10, 5 (ebd.).

Die Erschwerung der Ehescheidung kann sich nicht allein auf das rechtliche Verfahren der Scheidung selbst beziehen, sondern muß m.E. auch die gesellschaftlichen Bedingungen im Auge behalten, die zu einer Zerrüttung der Ehe führen können.

[61] In der gegenwärtigen Situation zählen dazu insbesondere eine Bekämpfung der Wohnungsnot und Senkung der Mietpreise. Da die kompletten Kosten für die Erziehung eines Kindes in der Bundesrepublik Deutschland auf 500.000 DM pro Kind geschätzt werden, bedeutet eine Anzahl von zwei oder mehr Kindern für viele Familien schon einen finanziellen Ruin.

[62] Daß sich Hegel über eine zunehmende Umweltzerstörung und deren mögliche Folgen nicht im klaren war, wird häufig auch mit Hegels abschätzender Einstellung zur Natur begründet.

[63] Vgl.: Aristoteles: Opera, 1253 a 1-4

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