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Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Fachbereich Katholische Theologie/
Friedhelm Greis
Wintersemester 1992/93
Hauptseminar Fundamentaltheologie:
Das Problem der Theodizee
Leitung:
Prof. Dr. Josef Schmitz
Zur Kritik an der Leibnizschen Theodizee-Konzeption anhand Voltaires Candide
Inhalt
Wer sich mit der Thematik unseres Seminars Das Problem der
Theodizee eingehender auseinandersetzt, wird sich bald dessen
weitreichender Implikationen bewußt. Aus dem philosophischen Problem
einer rational zu führenden Rechtfertigung Gottes ergeben sich schnell die
religiösen und moralischen Fragen nach dem Sinn des Leides im Leben und
des Lebens überhaupt, der Beschaffenheit des Gottesbildes und
-verständnisses sowie der Art und Weise eines angemessenen Lebenswandels.
Von daher haben Theodizee oder theodizee-analoge Fragestellungen schon immer
solche Menschen beschäftigt, deren Erfahrung von Leid nicht innerhalb des
gängigen Begründungsrahmens eingeordnet werden konnte. Wie im Laufe
der Geistes- und Religionsgeschichte sichtbar wurde, sorgten Wandlungen
bezüglich des Gottesbildes sowie neu auftretende Leidenserfahreungen
dafür, daß die Theodizeefrage stets Aktualisierungen erfuhr, was
anhand einer kurzen Rückblende verdeutlicht werden soll: Zu Beginn des
abendländischen Denkens, das noch im wesentlichen der Mythologie
verhaftet war, sorgte die weitgehend anthropomorphe Gottesvorstellung
dafür, daß die Götter sowohl für das Gute als auch
für das Böse in der Welt verantwortlich waren. Der Mensch stand deren
willkürlichem Handeln in hilfloser Schicksalsergebenheit gegenüber.
Die vorsokratischen Naturphilosophen wagten in ihrer Suche nach den materiellen
und immateriellen Prinzipien der Welt zaghafte Versuche zur Emanzipation des
Menschen von den mythologischen Göttern. Daraus ergaben sich erste
Schwierigkeiten zur Begründung des Ursprungs des Bösen, was jedoch
aufgrund des damals bestehenden Kosmosvertrauens nicht in besonderer Weise
relevant war. Der einzelne Mensch hatte sich noch nicht als Subjekt im
neuzeitlichen Sinne entdeckt und sah sich aufgehoben in der Harmonie des Kosmos
(im Sinne von Ordnung und Schönheit). Bei Platon begegnen wir in dieser
Weise einer extrem einseitigen Ausprägung des philosophischen
Gottesbegriffes, bei dem alles Negative abstrahiert und der somit als
das Gute schlechthin beschrieben wird. So wird in Timaios
30c die Frage verneint, ob Gott eine bessere Welt hätte schaffen
können, denn andernfalls wären Neid und Bosheit Gottes zu vermuten,
was nicht mit dessen Begriff zu vereinbaren sei. Die Möglichkeiten, um
eine Erklärung des Bösen herumzukommen, liegen dann in einer
Depotenzierung desselben und in dessen Auffassung als Erziehungsmittel bzw.
Strafe. Im weiteren Verlauf der Geschichte zeigte sich mit dem Untergang der
griechischen Polis und dem Aufkommen der Großreiche ein Schwund des
Kosmosvertrauens, dem von Seiten philosophischer Schulen wie dem
Epikureismus und der Stoa mit praktischen Lebensregeln zur
Vermeidung oder Erduldung des Leidens entgegengearbeitet wurde. Ebenfalls
drangen um die Zeitenwende auch vermehrt dualistische gnostische Systeme
östlicher Provenienz in die antike Gesellschaft ein, die für die
Probleme der Menschen einfache Erklärungsmodelle boten. Im Dualismus wird
dabei die Existenz eines guten wie auch eines bösen göttlichen
Prinzips vorausgesetzt, womit auf einfache Weise das Vorhandensein des
Übels auf der Welt erklärt wird. Unbeschadet der religiösen
Implikationen bezüglich der Gottesvorstellung lassen sich insbesondere
moralische Einwände gegen den Dualismus ins Feld führen, da er mit
einen gewissen Akzeptanz des Bösen und Resignation diesem gegenüber
einhergeht.
Auch Augustinus sah sich gezwungen, gegen solche Erscheinungen
anzukämpfen, obwohl er in seiner Jugend selbst dem Manichäismus
angehangen, aber letztlich die Schwächen des Systems voll erkannt hatte.
Mit ihm fanden auch spezifisch christliche Elemente Eingang in die
Theodizee-Problematik. Gleich bleibt zunächst, daß die Güte
Gottes als Ursache der Schöpfung gilt, so daß diese an sich gut ist
und jedes Geschöpf als solches Anteil am Guten habe. Den Ursprung des
Übels sieht Augustinus im freien Willen des Menschen begründet,
besonders als Folge der Erbsünde. Andererseits besteht auch er auf der
Allmacht Gottes, die er sich entweder als selbst wirkende, beim
Herbeiführen des Guten, oder als zulassende, beim Dulden des Bösen,
denkt. Der allgemeine Pessimismus Augustinus' kommt auch in der
Prädestinationslehre zum Ausdruck, nach welcher nur ein Bruchteil der
Menschheit erlöst werde und die Mehrzahl der Verdammnis zum Opfer falle.
Bei THOMAS VON AQUIN finden wir diese Position nur leicht variiert. Auch Thomas
mochte nicht vom Prinzip des guten, allmächtigen und weisen Gottes
abrücken und erklärte, das Zulassen des Übels durch Gott sei
gut. Schon bei ihm finden sich erste Anzeichen der Auseinandersetzung zwischen
Theologie und philosophischer Gotteslehre, die eine engere Anbindung des
Glaubens an den Offenbarungsbegriff und eine Absetzung von der Vernunft zur
Folge hatte, in dem Sinne, daß die Glaubenswahrheiten nicht über den
Weg der Vernunft erkannt werden könnten. Mit Beginn der Neuzeit erleben
wir einen völligen Wandel des Denkens, der die bis dahin geltenden
Vorstellungen revolutionierte. In bezug auf die Religion blieb der Siegeszug
der Vernunft nicht ohne Folgen. Wenn nach DESCARTES nur solche Aussagen als
wahr gelten können, die mittels der menschlichen Vernunft zweifelsfrei
verifizierbar sind, muß dies das Aus für dogmatische
Glaubenswahrheiten und auch die Metaphysik bedeuten, so daß Pierre BAYLE,
der Vater der französischen Aufklärung, behauptete, daß
religiöse Aussagen nur auf dem Wege des Glaubens anerkannt werden
könnten.
An dieser Stelle ist es nun notwendig, um die darauffolgende Stellungnahme
Leibniz' und die sich daraus entwickelnde Diskussion mit Voltaire einordnen zu
können, etwas genauer auf die Situation der damaligen Philosophie
einzugehen.
Schon im 17. Jahrhundert wurde kräftig an den Grundfesten christlich
geprägter philosophischer Traditionen gerüttelt und die
Glaubwürdigkeit der überlieferten Dogmen und religiösen
Vorstellungen in Frage gestellt. Eine Emanzipation des philosophischen Denkens
von den Fesseln der Theologie machte sich breit, eine neue Fundamentierung der
Gesetze des Denkens und Handelns wurde als nötig erachtet. Natürlich
verlief diese Neuorientierung der Philosophie nicht einheitlich, linear und
widerspruchslos. Setzte sich in bezug auf die sich neu entwickelnden
Naturwissenschaften unaufhaltsam der Empirismus als Methode durch, was
letztlich zur Abspaltung derselben von der Philosophie führte, teilten
sich die Ansichten bezüglich Moral und Religion in verschiedene
entgegengesetzte Richtungen auf. Glaubten die einen, wie Bayle, daß auch
in einem atheistischen Umfeld eine Moral aufrechterhalten werden könnte,
hielten andere, wie Voltaire, für die Masse der Bevölkerung eine
Gottesvorstellung im Rahmen einer natürlichen Religion für
unabdingbar, und beharrten die Vertreter des etablierten Christentums weiterhin
unerbittlich auf der Notwendigkeit der offenbarten christlichen Ethik. Von
entscheidender Bedeutung für die Säkularisierung der Moral war
natürlich die Frage nach dem Ursprung des Übels und dessen Sinn. Von
christlicher Seite aus bestand unter diesen neuen Voraussetzungen, d.h. dem
Verzicht auf überlieferte Glaubensaussagen wie Erbsünde und
Prädestination und unter dem Primat der Vernunft, die Notwendigkeit, eine
gänzlich neugeartete Begründung für die Existenz des Schlechten
zu finden. An dieser Stelle sah sich nun Leibniz aus religiösen Motiven
dazu verpflichtet, den Vorwürfen von der Unvereinbarkeit von Glauben und
Religion entgegenzutreten.
Für einen christlichen Philosophen wie Leibniz war es unverzichtbar, den
religiösen Vorstellungen nicht auch ein rationales Fundament geben zu
müssen. Ein Glaube, der vernünftigen Überlegungen gänzlich
verschlossen sein sollte, war für ihn nicht denkbar. Auch für Gott
mußten bestimmte unabänderliche Wahrheiten gelten, in dem Sinne,
daß auch Gott beispielsweise nicht widersprüchlich handeln
könne. Ganz dem Systemgedanken verpflichtet, deduziert Leibniz aus den von
ihm gesetzten mathematischen Prämissen seine logischen
Schlußfolgerungen. So kommt er notwendigerweise zu dem Schluß,
daß, wenn Gott allmächtig, weise und gut ist, er aus der
Möglichkeit unendlich vieler Welten nur die beste schaffen konnte.
Ebenfalls müsse es für jede Tat Gottes einen zureichenden Grund
geben, der letztlich dem Wohle des Ganzen diene. Von der Voraussetzung
ausgehend, daß sittliches Handeln menschliche Freiheit erfordere, wandte
sich Leibniz auch gegen einen absoluten Determinismus. Unter der Annahme,
daß jede Tat ihre vorausgehenden Motive besitze, siedelte er die
mensch-liche Freiheit zwischen den extremen Positionen des Determinismus und
einer absoluten Unabhängigkeit an. Zu Hilfe kam ihm dabei die Vorstellung
der Seele als Monade, die eingebettet in die prästabilierte Harmonie
"in sich das Prinzip aller ihrer Handlungen trägt"1. Was die Existenz des
Übels in der Welt angesichts eines guten und liebenden Gottes betrifft, so
versuchte Leibniz Gott von einer Anklage deshalb freizusprechen, da er das
Schlechte nicht nur als nicht der Güte Gottes widersprechend,
sondern als notwendige Voraussetzung für die Schöpfung der
Welt ansah. Das metaphysische Übel liege in der Kontingenz der endlichen
menschlichen Person begründet, das moralische in der menschlichen Freiheit
- die Entscheidungen unter unzureichender Kenntnis aller Faktoren abverlange -
und das physische bestehe in den vielerlei Arten der körperlichen
Gebrechen, die ihren Sinn als Erziehungsmittel zur Erringung höherer
Güter sowie als Sündenstrafe hätten. Weiterhin glaubte Leibniz,
daß, wenn wir in der Lage wären, alle Zusammenhänge der Welt zu
durchschauen, wir unzweifelhaft zu der Erkenntnis gelangten, daß Gott
berechtigten Anlaß zur Zulassung des Bösen habe. Der vielgereiste
Universalgelehrte glaubte nicht, daß eine fiktive Welt ohne Leid der
unseren an Güte überlegen wäre.
Bei dem ein halbes Jahrhundert später als Leibniz geborenen Voltaire
treffen wir auf einen völlig anderen Denkertyp als dem noch mehr der
mittelalterlichen Mystik und Metaphysik verhafteten deutschen Philosophen. Es
ist schwer, Parallelen zwischen den beiden festzustellen, und wenn sie zu
gleichen Ergebnissen kommen, dann auf unterschiedlichen Wegen. Voltaires
philosophische Grundüberzeugungen mußten ihn unvermeidlich in
scharfen Widerstreit zu Leibniz treten lassen. Besonders nach seinem Aufenthalt
in England hatten sich seine empiristischen, anti-metaphysischen und
anti-rationalistischen Einstellungen für immer konstituiert. Hinzu kam,
daß einen glühenden Newton-Verehrer wie Voltaire der Anspruch
Leibniz', als Erfinder der Infinitesimalrechnung zu gelten, zutiefst
brüskierte und in seinen Augen noch weiter herabsetzte. Dennoch
wußte Voltaire durchaus die Größe und den Umfang des
Leibnizschen Denkens zu schätzen, besonders dessen Vielseitigkeit auf
sowohl mathematischem als auch philosophischem Terrain. Letztlich verhinderte
jedoch die Abneigung des Franzosen gegen alles Metaphysische und
Rationalistische eine weitergehende Identifizierung mit dessen Werk. Für
Voltaire war der Weg von Descartes, der mit seiner neuen Methode des
prinzipiellen Zweifels der Philosophie neue Möglichkeiten eröffnet
hatte, hin zum strikten Empirismus und Sensualismus Lockes zwangsläufig.
Von daher wurde auch Descartes von ihm noch heftig angegriffen, da er selbst
wieder der Versuchung erlegen war, ein alles umfassendes metaphysisches
Gebäude zu errichten, mit Worten Voltaires:
Descartes fit une philosophie comme on fait un bon roman, tout parut
vraisemblable, et rien ne fut vrai.
Lettres philosophiques XV
Obwohl Leibniz ebenfalls scharfe Kritik an Descartes geübt
hatte, z.B. in bezug auf dessen Substanzbegriff, mechanistischer Physiologie
und Leib-Seele-Dualismus, habe er laut Voltaire doch nur ein falsches System
gegen ein anderes ersetzt. So lobte dieser dann Pierre Bayle in seinem
Poème sur le Desastre de Lisbonne mit den Worten:
Assez sage, assez grande pour être sans système
il les a tous detruits et se combat lui-même.2
Voltaire war dezidiert der Auffassung,
Wissenschaft nur auf empirischer Grundlage betreiben zu können, alles
weitere seien Hirngespinste:
Les chimères absurdes DONT on infatuait la jeunesse depuis
deux mille ans.
Lettres philosophiques XVI
Was für die sich neu
herausbildenden Naturwissenschaften galt, wandte Voltaire auch
uneingeschränkt auf die Theologie an. Durchaus an die Existenz eines
Gottes glaubend, bevorzugte er jedoch den kosmologischen Gottesbeweis Newtons
gegenüber dem ontologischen Descartes'. Demzufolge ist Gott der
Weltenbaumeister, der den Kosmos nach den ihm zugrundeliegenden Gesetzen
geschaffen hat. Zu weitergehenden Aussagen seien wir weder fähig noch
berechtigt. Im Gegenteil, die sich widerstreitenden Auffassungen der Theologen
gäben Anlaß zu immerwährenden teils kriegerischen
Auseinandersetzungen.
Sicherlich besteht die Religion doch in der Tugend, und nicht in dem
ungereimten Plunder der Theologie. Die Moral ist von Gott und ist überall
dieselbe, die Theologie kommt von den Menschen und ist überall verschieden
und lächerlich. Die Anbetung eines Gottes, der bestraft und belohnt,
vereinigt alle Menschen, die verruchte und verächtliche Theologie entzweit
sie. Jaget die Theologen fort und die Welt ist ruhig (wenigstens im Punkte der
Religion); lasset sie zu und gebt ihnen Ansehen, und die Welt schwimmt in
Blut.
Gott und die Menschen3
Darin
kommt in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, wie Voltaire sich selbst verstand:
als Moralphilosoph und in keinster Weise als Theologe. Dennoch stammt von ihm
der berühmte Satz: "Si Dieu n'existait pas, il faudrait
l'inventer"4 Für ihn
läßt sich demnach kein Gemeinwesen von Atheisten denken, indem eine
öffentliche Moral aufrecht erhalten werden könnte. Sowohl für
die Masse der Bevölkerung, die er im allgemeinen nur als canaille oder
populace bezeichnete, als auch für die Machthaber, die sich auf
diese Weise nicht ganz jeglicher Abhängigkeit entzogen vorkämen, sei
die Vorstellung einer übergeordneten letzten Instanz von erzieherischer
Wirkung. Was Voltaire jedoch entschieden ablehnte, waren aufoktroierte
Glaubensdogmen und überhaupt jegliche konkrete offenbarte Religion.
Für ihn hatten allein ethische Fragestellungen Relevanz, nicht wie und
durch wen das höchste Wesen angebetet werde. Er betrachtete das
Christentum wie jede andere Religion, die ihren Sinn verliere, wenn sie zum
Anlaß für handfeste Auseinandersetzungen zwischen den Menschen
werde. So versuchte er als Historiker aus den vorhandenen Religionen das
herauszunehmen, was er als die allgemeine, bei jedem Menschen vorhandene Moral
bezeichnete.
Je dis avec le grand Newton: Natura est semper sibi
consonans. La nature est toujours semblable à elle-même. La
loi de la gravitation qui agit sur un astre, agit sur tous les astres, sur
toute la matière; ainsi la loi fondamentale de la morale agit
également sur toutes les nations bien connues. Il a mille
différences dans les interpretations de cette loi, en mille
circonstances; mais le fond subsiste toujours le même, est ce fond est
l'idée du juste et de l'injuste. On connaît prodigeusement
d'injustices dans les fureurs de ses passions, comme on perd la raison dans
l'ivresse; mais quand l'ivresse est passée, la raison revient; et c'est
à mon avis l'unique cause qui fait subsister la société
humain, cause subordonnée au besoin que nous avons les uns des autres.
Le philosophe ignorant XXXVI 5
Eine Trennung von Moral und Religion ist in
dieser Sicht wieder ohne weiteres möglich. Voltaire ging davon aus,
daß diese Erkenntnisse sich peu à peu ihren Weg in den
Völkern bahnen und die neuen Erkenntnisse der Naturwissenschaften mit
deren praktischer Anwendung dazu beitragen werden, das Leben der Menschen zu
verbessern und von den bisherigen Irrtümern abzukommen. Auch wenn diese
optimistische Weltsicht zwischenzeitlich durch persönliche und
gesellschaftliche Krisen getrübt wurde, resignierte Voltaire jedoch bis
zuletzt nicht und setzte sein aufklärerisches Wirken und Eintreten
für Gerechtigkeit unvermindert fort.
Vergegenwärtigt man sich Situation der Veröffentlichung des Romans
Candide, so stellt sich unwillkürlich die Frage, welchen
Anlaß es für Voltaire geben konnte, sich auf diese Weise mit dem
Werk eines Philosophen auseinanderzusetzen, der schon seit einem halben
Jahrhundert das Zeitliche gesegnet hatte und dessen Werk in Frankreich nur
bruchstückhaft bekannt und veröffentlicht war.6 Es ist auch nicht so, daß Voltaire sich in
vorhergehenden Schriften nicht mit Themen wie dem Ursprung des Bösen und
der Freiheit des Menschen auseinandergesetzt hätte. Die Kritik an der
Metaphysik durchzieht wie ein roter Faden sein Werk.7 Wandten sich diese Einwände in seiner Jugend gegen die
etablierten Systeme der Scholastik, eines Descartes, Spinoza oder Malebranche,
sah sich Voltaire in der Dekade von 1730-1740 plötzlich mit dem aus
Deutschland nach Frankreich übergreifenden Ideen eines Leibniz
konfrontiert, in einer noch systematisierteren Fassung Christian Wolffs. Der
Franzose machte aus seiner Alehnung der Werke auch gegenüber dem Protektor
Wolffs, Kronprinz Friedrich von Preußen, kein Hehl:
Wolff und Leibniz sind wirklich sehr große Philosophen, aber
auch Menschen und daher sujets à se tromper. Bestermann 13478
Besonders betroffen machte ihn die
Tatsache, daß seine langjährige Weggenossin, die Marquise du
Châtelet, sich plötzlich für das Leibnizsche System zu
interessieren begann und eine Schülerin Wolffs zu werden trachtete. Damit
lassen sich auch die zurückhaltenden Äußerungen Voltaires
bezüglich der beiden Deutschen bis zum Tod der Marquise im Jahre 1745
erklären. In der 1752 erschienenen Schrift Micromégas
änderte Voltaire jedoch erstmals seine Vorgehensweise und seinen
literarischen Stil, um ein größeres Publikum zu erreichen. Die
Auseinandersetzung mit den Themen, die schon in Traite de Metaphysique
und Elements de la philosophie de Newton begonnen worden war, gewinnt
nun an Schärfe, und der Wechsel von nüchternen Abhandlungen zu
beißenden Satiren wird deutlich. Der Vergleich zwischen der Behandlung
des Konzepts der prästabilierten Harmonie in Eléments und
Micromégas macht dies sehr anschaulich:
Dans son hypothèse l'âme n'a aucun commerce avec son
corps; ce sont deux horloges que Dieu a faites, qui ont chacune un ressort, et
qui vont un certain temps dans une corespondance parfaite; l'une montre les
heures , l'autre sonne: L'horloge qui montre l'heure ne la montre parce que
l'autre sonne; mais Dieu a établi leur mouvement de façon que
l'aiguille et la sonnerie se rapportent continuellement. (...) Sans parler de
l'extrême embarras qu'on a encore á concilier la liberté
avec cette harmonie préetabli, il y a une objection bien forte à
faire; c'est que si selon Leibnitz, rien ne se fait sans une raison suffisante,
pris du fond du choses, quelles raisons a eue Dieu d'unir ensemble deux
êtres (...) aussi infiniment différents que l'âme et le
corps? Eléments, Moland, Band I, S. 425
dagegen:
Et toi, mon ami, dit-il(der Sirien), à un Leibnitzien qui
était là, qu'est-ce que ton âme? - C'est, repondit le
Leibnitzien, une aiguille qui montre les heures pendant que mon corps
carillonne ou bien, si vous voulez, c'est elle qui carillonne pendant que mon
corps montre l'heure; ou bien mon âme est le miroir de l'univers, et mon
corps est la bordure du miroir: cela est claire.
Micromégas, Moland, Band XXI, S. 121
Im letztzitierten Werk wird schon eine
schrittweise Abkehr von dem auf einem Fortschrittsglauben basierenden
Optimismus deutlich, wie er besonders im 25. Brief der Lettres
philosophiques von 1734, dem sogenannten Anti-Pascal, zum
Ausdruck kam. Trat Voltaire im besagten Werk noch dem extremen Pessimismus
Pascals entgegen und insistierte er auf dem Gelingen der menschlichen Existenz
auch in Anbetracht seiner Unvollkommenheiten, so läßt er seine
Hauptfigur in Micromégas sagen:
Je n'ai vu aucuns (mortals) qui n'aient plus de désir que de
vrais besoins, et plus de besoins que de satisfactions. J'arriverai
peut-être un jour au pays où il ne manque rien; mais jusqu'a
présent personne ne m'a donné de nouvelles positives de ce
pay-là. Micromégas, Moland, Band XXI, S. 108-109
Als Faktoren, die
zur Entstehung von Voltaires Pessimismus beitrugen, abgesehen vom Tod der
Marquise du Châtelet, dem Erdbeben von Lissabon und der Gemetzel des
Siebenjährigen Krieges, dürfen seine Enttäuschung über
seinen abgebrochenen Aufenthalt in Potsdam und dem Bruch mit Friedrich II.,
seine Verwicklung in die Dispute mit Rousseau und Maupertuis, wenig erfreuliche
Erkenntnisse bei den Studien zum Essai sur le moeurs, sein Gefühl
der Heimatlosigkeit aufgrund seiner ständigen Abwesenheit von Frankreich
und schließlich sein fortgeschrittenes Alter nebst schlechtem
Gesundheitszustand zu zählen sein. Literarisch schlugen sich diese
Erfahrungen zunächst im Poème sur le desastre de Lisbonne
nieder, das Voltaire einen Monat nach dem schrecklichen Erdbeben von 1.
November 1755 verfaßt hatte. Darin übte er zum ersten Mal
öffentlich explizit Kritik am Optimismus à la Leibniz.
Sicherlich in einem eingeschränkten und teilweise falschen
Verständnis der eigentlichen Anliegen Leibniz', wandte er sich vor allem
gegen die ethischen Implikationen der Theorie, die seiner Meinung nach die
Leiden der Menschen nicht ernst genug nehme und eine rationale Kälte
ausstrahle. So schrieb er:
Leibnitz ne m'apprend point par quels noeuds invisibles
Dans le mieux ordonné des univers possibles,
Un désordre éternel, un chaos de malheurs,
Mêle à nos vains plaisirs de réelles douleurs,
Ni pourquoi l'innocent, ainsi que le coupable,
Subit également ce mal inévitable.
Je ne conçois pas plus comment tout serait bien:
Je suis comme un docteur; hélas! je ne sais rien.
Poème sur le desastre de Lisbonne, Moland, Band IX, S. 475
Bei Voltaire schien sich nun die Notwendigkeit durchgesetzt zu
haben, mit dem gesamten Leibnizschen System ein für alle Mal abzurechnen
und es so darzustellen, wie es ihm schon immer erschien: wirklichkeitsfremd,
lächerlich und absurd. Erstaunlicherweise führte die Realisierung
dieses Vorhabens zu Voltaires schriftstellerischem Meisterstück und zu
einem der Hauptwerke des 18. Jahrhunderts. Zu Beginn des Jahres 1758 wurde mit
der Abfassung Candides begonnen und nach zehn Monaten wurde er
fertiggestellt - nicht wie die Legende sagt, innerhalb von drei Tagen. Das Jahr
1758 erlebte schon die Schrecken des Siebenjährigen Krieges, der den
Voltaire-Verehrer Friedrich II. als Hauptakteur sah, und von dem zahlreiche im
Briefkontakt mit dem Franzosen stehende deutsche Adlige unmittelbar betroffen
waren. Die blutigen Auseinandersetzungen ließen Voltaire noch einmal die
Unbelehrbarkeit des menschlichen Geschlechts bewußt werden und ihren
Niederschlag in der Erzählung finden. So siedelt er seinen Roman
zunächst im arg vom Krieg geschüttelten Deutschland an, versetzt
seine Hauptfigur Candide vorerst jedoch in die paradiesischen Zustände
eines höchst bescheidenen Schlosses, bevor er durch den Sündenfall
mit der Baronesse Kunigunde für immer daraus vertrieben wird. Von Beginn
an läßt Voltaire beim Leser über seine Intentionen keinen
Zweifel: Der Hofmeister Pangloß, als Vetreter der Leibniz-Wolffschen
Metaphysik fällt beißendem Spott anheim. Jedwede seiner
Äußerungen ermangelt jeglicher Logik und Stringenz und ist in ihrem
unermüdlichen Repetieren der Prinzipien vom zureichenden Grunde und der
besten aller Welten der stets präsenten Ironie preisgegeben. Der naive
Candide, der die Lehren seines Meisters Pangloß gänzlich
internalisiert hat, wird nach seinem Hinauswurf aus dem Schloß des Barons
schnell von der Realität eingeholt. Die Schrecken des Krieges lassen erste
Zweifel an der Weisheit seines Meisters aufkommen; er wendet seine Geschicke
daraufhin nach Holland, wo er religiöser Intoleranz begegnet und seinem
von Syphilis befallenen Lehrer Pangloß wiedertrifft, der ihm die
Nachricht von der Ermordung Kunigundes und ihrer Familie übermittelt. Im
weiteren Verlauf der Handlung begegnen Candide und Pangloß noch den
Unbillen der Natur in Form eines fürchterlichen Gewitters und des
Erdbebens von Lissabon. Danach bekommen beide die Entartungen religiöser
Intoleranz, repräsentiert durch die Heilige Inquisition, am eigenen Leibe
zu spüren. Voltaire zielt somit in erster Linie darauf ab, die
Unmoralität und Scheinheiligkeit vieler Menschen darzustellen, die hinter
der aufgesetzten Maske von Religiösität und Frömmigkeit keine
wahre Sittlichkeit vorweisen können. Dieses Schema wiederholt sich
fortwährend im Laufe des Romans, lediglich im imaginären Land El
Dorado begegnen wir anderen Zuständen. Dort ist das deistische Ideal einer
natürlichen Religion verwirklicht, herrschen Philosophenkönige, die
die Naturwissenschaften fördern und Rechtsprechung für
überflüssig halten. Materielle Not ist dort beseitigt und die
Menschen treiben sich nicht gegenseitig in den Ruin. Klugerweise ist dieses
Land unzugänglich gelegen, doch selbst dort halten es normale Menschen wie
Candide und sein Diener Cacambo aufgrund ihrer Eitelkeit nicht lange aus und
versuchen mit den dort erworbenen Schätzen in der realen Welt ihr
Glück zu machen. Eine weitere wichtige Person lernt Candide dann in dem
Manichäer Martin kennen, der für die Existenz des Bösen in der
Welt in seinem Dualismus den Teufel verantwortlich macht und in keinster Weise
an das Gute im Menschen glaubt. Bemerkenswert ist schließlich, daß
die Geschichte nicht mit einem zu erwartenden Fiasko, noch mit einem
unvermuteten Happy-End schließt. Voltaire versammelt sämtliche
Hauptfiguren an einem Ort fernab der Ereignisse der Welt, vergleichbar mit dem
damaligen Domizil des Schriftstellers auf dem Gut Ferney bei Genf. Die
Begegnung der drei "Philosophen" Candide, Pangloß und Martin mit einem in
der Nachbarschaft lebenden Derwisch läßt Voltaires
Überzeugungen über den Sinn metaphysischer Spekulationen deutlich
werden: "Wir müssen darüber schweigen. Allein es gilt,
unseren Garten zu bebauen."
Nach dieser kurzen Zusammenfassung des Romans scheint es sinnvoll, im Detail
auf die literarische Behandlung des philosophischen Diskussionspunkte
einzugehen, um hinter der verhüllenden Maske der Ironie und
Absurdität Voltaires eigentliche Auffassungen hervortreten zu lassen. Dies
soll anhand sieben ausgewählter Beispiele geschehen:
1. zu: Die beste aller Welten
Pangloß lehrte die Metaphysiko-Theologo-Kosmolo-Nigologie.
Bewunderungswürdig bewies er, keine Wirkung könne ohne Ursache sein,
und in dieser besten aller möglichen Welten sei das Schloß des
Barons das schönste der Schlösser, die gnädige Frau die beste
aller Baroninnen. "Die Dinge können nicht anders sein, als sie
sind", demonstrierte er: "denn da alles zu einem Zweck geschaffen
worden ist, muß es natürlich zum besten Zweck sein. Seht eure Nasen
an: sie wurden gemacht, damit ihr Brillen tragen könnt; folglich gibt es
Brillen. Wie der Augenschein dartut, habt ihr Beine um Stiefel zu tragen;
deshalb gibt es Stiefel. Die Steine sind dazu da, daß man sie behaut und
Schlösser daraus baut; Daher haben Seine hochfreiherrliche Gnaden ein
prächtiges Schloß, denn der mächtigste Edelherr des Landes
muß auch am besten wohnen. Die Schweine sind da, daß man sie
ißt, deshalb essen wir das ganze Jahr Speck. Aus alledem ergibt sich klar
und einleuchtend: eine Dummheit sagt, wer da behauptet, alles sei gut
geschaffen worden; nein, man muß sagen: alles wurde auf das
beste gemacht." 9 Kap. I,
S. 3f
Schon im ersten Kapitel seines Romans läßt
Voltaire keinen Zweifel daran, wer die offensichtliche Zielscheibe seines
Spotts darstellt. Mit der Mammutwortbildung
Metaphysiko-Theologo-Kosmologo-Nigologie10 nimmt er das Werk des bedeutenden deutschen philosophischen
Systematikers und Leibnizschülers Christian Wolff aufs Korn, gegen den er
in mehrfacher Hinsicht eine Abneigung entwickelt hatte. Es wird in diesem
kurzen Zitat bereits deutlich, daß sich Voltaire gegen jede ernsthafte
Auseinandersetzung mit dem philosophischen System Leibniz' sperrte. Was
Voltaire eigentlich stört, ist jeder Versuch der Erklärbarkeit der
Welt und des menschlichen Geschickes überhaupt. Zur Verteidigung Leibniz'
ist zu sagen, daß er seine in De rerum originatione radicali
dargelegte, auf mathematischen Überlegungen basierende Konzeption:
Semper scilicet est in rebus principium determinationis quod a
Maximo Minimove petendum est, ut nempe maximus praestetur effectus, minimo ut
sic dicam sumtu. Gerhardt, Band VII, S. 303
für qualitative Aussagen im
Bereich der Théodicée korrigierte:
La conséquence de la quantité à la
qualité ne va toujours bien, non plus que celle qu'on tire des
égaux aux semblables (...) la partie du meilleur Tout ne pas
nécessairement le meilleur qu'on pouvait faire de cette partie; puisque
la partie d'une belle chose n'est pas toujours belle, pouvant être
tirée du tout, ou prise dans le tout, d'une manière
irrégulière. 11
Daraus folgt, daß Leibniz zwischen
Le Tout est bien (Das Ganze ist gut) und Tout est bien (Alles ist
gut) wohl zu unterscheiden wußte. Des weiteren geht Leibniz in De
rerum originatione radicali davon aus, daß auch die beste aller
Welten das Prinzip ihrer Verbesserung in sich trage und somit ein Fortschritt
möglich sei:
In cumulum etiam pulchritudinis perfectionisque universalis operum
divinorum, progressus quidam perpetuus. liberrimusque totius Universi est
agnoscendus, ita ud ad maiorem semper cultum procedat. (...) Et quod obiici
posset: ita oportere ut Mundus dudum factus fuerit Paradisus, responsio praesto
est: etsi multae iam substantiae ad magnam perfectionem pervenerint, ob
divisibilitatem tamen continui in infinitum, semper in abysso rerum superesse
partes sopitas adhuc excitandas et ad maius meliusque et ut verbo dicam, ad
meliorem cultum provehendas. Nec proinde unquam ad Terminum progressus
perveniri. Gerhardt, Band VII, S. 308
So kommt auch Richard BROOKS in seiner
Abhandlung über das Verhältnis von Voltaire zu Leibniz zu dem
Schluß:
In the context of Voltaire's career, however, Candide appears
to be more of a refutation of the author's previous beliefs than it is of the
philosophy of Leibniz. (...) The German philosopher was not so naive as to
entertain the blind proposition of Pangloss that there was no evil in the
world. Moreover, he believed in the potential improvement of man and had great
faith in the future of science.12
Dieser Ansicht ist sicherlich zuzustimmen, und
sie macht wieder einmal deutlich, daß es Voltaire an einer ernsthaften
philosophischen Auseinandersetzung nicht gelegen war.
2. zu: Zureichender Grund
"O Pangloß", rief Candide, "welch
absonderlicher Stammbaum! Sollte die Wurzel nicht der Teufel
sein?" - "Durchaus nicht! Es ist etwas Unentbehrliches für die
beste aller Welten, ein notwendiger Bestandteil. Denn hätte Columbus sich
nicht auf einer Insel Amerikas diese Krankheit zugezogen, die die Quelle der
Zeugung vergiftet, ja häufig sogar diese verhindert und dem großen
Zweck der Natur offenbar entgegenwirkt - wir würden weder Schokolade noch
Cochenille haben.(...) Kap. IV, S. 12
Auf das Prinzip
vom zureichenden Grund geht Voltaire wiederholt im Laufe des Romans ein, da er
darin eine der Hauptschwächen des Leibnizschen Systems sah. Obwohl
Voltaire mit Leibniz darin übereingeht, daß jede Wirkung ihre
Ursache habe, glaubte er dennoch nicht, daß für jede Ursache ein
sinngebender, zureichender Grund vorhanden sei, selbst wenn er in den meisten
Fällen den Menschen verborgen sei. Diese Vorstellung war für ihn
unannehmbar, denn auf diese Weise die Leiden der Menschen zu erklären und
zu vertrösten, erscheint ihm zynisch.
3. zu: Willensfreiheit
An einem schönen Frühlingsmorgen kam es ihm (Candide) in
den Kopf, spazierenzugehen, immer der Nase nach, denn er glaubte, Menschen wie
Tiere genössen das Vorrecht, sich ihrer Beine nach Belieben bedienen zu
dürfen. Noch hatte er keine zwei Meilen zurückgelegt, als vier andere
Helden (sic. Soldaten) von sechs Fuß Länge ihn einholen, binden und
ins Gefängnis bringen. Ein Kriegsgericht fragt ihn, was er lieber
hätte: sechsunddreißigmal Spießruten zu laufen oder sich
zwölf bleierne Kugeln zugleich ins Gehirn jagen zu lassen. Candid hatte
gut reden, der Wille des Menschen sei frei, und er möge weder das eine
noch das andere; man ließ ihm keine Wahl. Kraft der guten Gottesgabe,
Willensfreiheit genannt, entschloß er sich also, sechsunddreißigmal
Spießruten zu laufen. Kap. II, S. 6f
Für Leibniz galt laut Initia et specima scientia generalis das Prinzip:
Eo magis est libertas, quo magis agitur ex ratione, et eo magis
servitus, quo magis agitur ex animi passionibus. Gerhardt, Band VII,
S. 109
Daraus folgt, daß indifferente Freiheit für ihn
unmöglich ist. Auch Gott wähle, weil er frei sei, stets das
Vollkommene. Hierin liegt auch der Anknüpfungspunkt vom Satz zum
zureichenden Grunde. Dadurch, daß der Wille durch die Einsicht nicht dem
Zwang nach, sondern der Neigung nach beeinflußt wird, liegt eine finale
und keine kausale Determination vor, was im Endeffekt jedoch dasselbe Ergebnis
bewirkt.13 Voltaire hält dem entgegen, daß den meisten
Menschen das Los bestimmt sei, in Unterdrückung und Knechtschaft zu leben
und zwischen gleich schlechten Alternativen auswählen zu müssen.
4. zu: Rechtfertigung des Übels
"All dieses ist unerläßlich", entgegnete der
einäugige Doktor(Pangloß), "das Unglück des einzelnen
begründet das Wohl der Gesamtheit, so daß es ums allgemeine Wohl
desto besser steht, je mehr privates Unglück es gibt.
Wie sich
aus dem Zitat entnehmen läßt, stimmt Voltaire nicht mit Leibniz
darin überein, daß das Unglück des einzelnen dem Wohle der
Gesamtheit diene. Es ist kaum anzunehmen, daß Leibniz dies in einer
solchen plumpen Verallgemeinerung vertreten haben könnte, aber Voltaire
möchte sich trotzdem gegen jedwede Rechtfertigung des Übels wenden -
in der Verteidigung des je individuellen Schicksals. Besonders deutlich wurde
ihm dies am Beispiel des Erdbebens von Lissabon, durch das er in keinster Weise
eine Vergrößerung des Allgemeinwohls feststellen konnte.
5. zu: Optimismus
"O Pangloß! Von diesen Greueln hast du nichts
gewußt; es ist aus, jetzt muß ich deinem Optimismus
entsagen." - "Optimismus? Was ist das?" - "Ach", sagte Candid,
"das ist der Irrsinn, alles wunderschön zu finden, wenn es einem
hundsmiserabel geht. Kap. XIX, S. 58
Leibniz selbst
kannte den Begriff Optimismus noch nicht, der im Februar 1737 von
französischen Jesuiten im Journal de Trevaux geprägt wurde,
die damit die mathematische Behandlung eines theologischen Problems in der
Théodicée lächerlich machen wollten. Der Begriff
Optimismus löste sich jedoch bald aus der eigentlichen
metaphysischen Diskussion und wurde zusammen mit seinem später
geschaffenen Pendant Pessimismus zum Inbegriff einer ganzen
Weltanschauung. Voltaire benutzte den Ausdruck eher im Sinne der Jesuiten und
trug durch den Titel seines Werkes wesentlich zu dessen Verbreitung bei. Ihm
lag es fern, aus mathematischen Gesetzen und dem Prinzip des zureichenden
Grundes die Folgerung abzuleiten, diese Welt sei die beste aller Welten; und
selbst wenn es aus diesen Gründen unabweisbar sei, wäre es für
ihn angesichts der Übel in der Welt absurd.
6. zu: Ursprung des Übels
"Aber Sie, Herr Martin", sagte er (Candide) zu dem
Gelehrten, "wie denken Sie über all das? Welche Gedanken machen
Sie sich über das moralische und physische
Übel?" - "Verehrter Herr", antwortete Martin,
"unsere Geistlichen haben mich verklagt, ich sei Sozinianer; in Wahrheit
bin ich jedoch Manichäer." - "Sie haben mich zum besten",
sagte Candid, "Manichäer gibt es nicht mehr." - "Ich bin
einer", sagte Martin, "ich kann mir nicht helfen; aber anders zu
denken vermag es nicht." - "Sie müssen den Teufel im Leib
haben", sagte Candid. "Er mischt sich so stark in die Händel
dieser Welt", sagte Martin, "daß er ebensogut in meinem Leib
als irgendwo anders stecken könnte. Kap. XX, S. 62
Leibniz' Theodizee heißt in ihrem vollen Titel
Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la
liberté de l'homme et l'origine du mal. Für Voltaire sind
Aussagen über den Ursprung des Bösen ebenso wie solche über die
Güte Gottes und die Freiheit des Menschen unsinnige metaphysische
Spekulationen. Des weiteren scheint er nicht auf spezifisch christliche
Erklärungsmodelle angewiesen zu sein. Für ihn besteht die Gefahr
darin, daß diejenigen, die vorgeben, den Ursprung des Bösen zu
erklären zu vermögen, auch gleichzeitig beanspruchen, die Lösung
zur Überwindung desselben bereitzuhalten. Für ihn gibt es eine
allgemeine, für alle Menschen gleiche Moral, die unabhängig von den
Religionen zu entwickeln sei. Wie oben erwähnt, geht er nicht davon aus,
daß dies für die Mehrheit der Menschen möglich sei, sondern
beharrt in diesem Falle auf der Vorstellung eines richtenden und strafenden
Gottes aus soziologischen Erfordernissen. Er führt die Position der
Manichäer in diesem Zusammenhang sicherlich im Hinblick auf Pierre Bayles
gleichnamigen Artikel im Dictionaire historique et critique an, der die
Diskussion um den gnostischen Dualismus neu entfachte und zu dem auch Leibniz
Stellung bezogen hatte.
7. zu: Prästabilierte Harmonie
"Nun, mein teurer Pangloß", fragte ihn Candid,
"als Sie gehängt, seziert, geprügelt wurden und dann auf der
Galeere rudern mußten, haben Sie da immer noch geglaubt, alles in der
Welt sei aufs beste eingerichtet?" - "Ich habe stets an meiner
ersten Meinung festgehalten", antwortete Pangloß, "denn
schließlich bin ich Philosoph, und als solcher darf ich nichts
widerrufen; außerdem kann Leibniz nicht unrecht haben, und die
prästabilierte Harmonie ist doch das Schönste, was es gibt, so gut
wie der Weltprozeß und die Urmonaden. Kap. XXVIII, S. 99
Gegen Ende des Romans holt Voltaire noch einmal zu einem
Rundumschlag gegen die meisten von Leibniz vertretenen Positionen aus. Dabei
degradiert er sie zu einer Frage der Gewohnheit herab, unzugänglich der
menschlichen Vernunft und Einsicht. Für Voltaire waren die
prästabilierte Harmonie und die Monadologie immerzu ein Buch mit sieben
Siegeln oder einfach Hirngespinste, die nichts weiter als Spott verdient
hätten.
Wie anhand dieser wenigen Beispiele deutlich wurde, hat Voltaire sicherlich die
Schwachstellen des Leibnizschen Systems erkannt, wenn er auch eine etwas eigene
Art ihrer Widerlegung oder besser gesagt Bekämpfung wählte.
Voltaires Roman Candide ou l'optimisme wurde von seinen Zeitgenossen mit
Begeisterung aufgenommen, und die von Leibniz vorgenommene Lösung der
Theodizeefrage schien ein für alle Mal erledigt. Sogar dessen Methode,
sich dem Problem auf metaphysisch-spekulative Weise zu nähern, schien
beendet worden zu sein. Auch Kant erteilte solchen Theodizeeversuchen eine
Absage, wogegen im deutschen Idealismus, der sich auch in der Nachfolge
Leibniz' stehen sah, der Begriff Theodizee auf die gesamte
philosophische Gotteslehre oder natürliche Theologie ausgedehnt wurde. Im
20. Jahrhundert führten neue Leiderfahrungen sowohl nach dem Ersten als
auch nach dem Zweiten Weltkrieg Theologen wie Karl Barth, Johann Baptist Metz
und Jürgen Moltmann wieder neu an das Problem heran. D.h., die neuen
Dimensionen der menschlichen Grausamkeit und des Leidens hatten das
Verhältnis von Leid zu Gott wieder einmal zu Ungunsten Gottes verschoben,
was zeigt, daß die Theodizeefrage ständig aktuell und nie
endgültig zu lösen ist.
a) Quellen:
LEIBNIZ, Gottfried Wilhelm von: Philosophische Schriften. 7 Bde. Edit.
C.I. Gerhardt. Berlin 1875-90 (Neudruck 1961)
Ders.: Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la
liberté de l'homme et l'origine du mal. Nouvelle édition
augmentée de l'histoire de la vie et des ouvrages de l'auteur par M. L.
de Neufville. 2 Bde. Edit. Louis de Jaucourt. Amsterdam 1734
VOLTAIRE, François Marie Arouet de: Candid oder die beste aller
Welten. Reclam Universalbibliothek. Stuttgart 21990
Ders.: Candide ou l'optimisme. Reclam Universalbibliothek. Stuttgart 1982
Ders.: Correspondence. 84 Bde. Edit. Theodor Bestermann. Les
Délices, Genf 1953-
Ders.: Lettres philosophiques. 2 Bde. Edit. Gustave Lanson. Paris 1937
Ders.: Oeuvres complètes. 52 Bde. Edit. Louis Moland. Paris
1877-82
b) Sekundärliteratur:
BROOKS, Richard A.: Voltaire and Leibniz. Genf 1964
HENRY, Patrick: Voltaire and Camus. The limits of reason and the awareness
of absurdity. Studies on Voltaire and the eigtheenth century Vol.CXXXVIII
Banbury 1975
Metzler-Philosophenlexikon. Stuttgart 1989
MöNCH, Walter: Voltaire und Leibniz. Ihre Weltanschauung und soziale
Wirklichkeit. In: BROEKMEIER, Peter; DESNé, Roland; VOSS,
Jürgen (Hrsg.): Voltaire und Deutschland. Quellen und Untersuchungen
zur Rezeption der französichen Aufklärung. Stuttgart 1979
153-165
RITTER, Karl; GRüNDER, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch
der Philosophie. Basel 1971-
ZIEGENFUß, Werner; JUNG, Gertrud: Philosophenlexikon Bd.II.
Stuttgart 1950
Fußnoten
[1] LEIBNIZ, Gottfried Wilhelm von:
Philosophische Schriften. 7 Bde. Edition. Gerhardt. hier: Band VI, S. 133.
Im folgenden
abgekürzt: Gerhardt
[2] VOLTAIRE, François Marie Arouet de:
Oeuvres complètes. 52 Bde. Edit. Moland. hier: Band IX, S. 475, Im folgenden
abgekürzt: M.
[3] Vgl. MöNCH, Walter: Voltaire und
Leibniz. Ihre Weltanschauung und soziale Wirklichkeit. 158f
[4] Voltaire: Epître de l'auteur du
livre des Trois Importeurs. Oeuvres complêtes. Edit. Garnier. Paris
1877-1885 IX, 403
[5] Ebd.: 163
[6] Vgl. BROOKS, Richard A.: Voltaire and
Leibniz. 33-51
[7] Vgl. HENRY, Patrick: Voltaire and
Camus. 29-33
[8] Voltaire: Correspondence. 84 Bde.
Edit. Bestermann
[9] ders.: Candid oder die beste aller
Welten.
[10] Den Begriff Nigologie könnte
Voltaire aus dem französischen Adjektiv nigaud[nigo] = dumm,
einfältig abgeleitet haben, um seine Einschätzung von philosophischen
Systembildungen deutlich zu machen.
[11] Leibniz: Essais de théodicée sur la bonté
de Dieu, la liberté de l'homme et l'origine du mal. Nouvelle
édition augmentée de l'histoire de la vie et des ouvrages de
l'auteur par M. L. de Neufville. 2 Bde. Edit. Jaucourt Kap.II SS212f
[12] BROOKS, Richard A.: Voltaire and
Leibniz. 98
[13] Vgl. Art.: Freiheit. In: Historisches Wörterbuch der
Philosophie Bd.2 1090
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